Das große Schweigen zum kleinen Aufstand

Es war wirklich schwierig, in den letzten Wochen nichts von der Moskauer Punkband „Pussy Riot“ und ihrer provokanten Aktion mit dem „Anti-Putin-Gebet“ sowie dem vollkommen überzogenen Gerichtsurteil dafür zu lesen. Tausende von Anhängern der Band demonstrieren in Moskau, weltweit – auch in Deutschland – finden zahlreiche Solidaritätsaktionen statt, Madonna tritt in Moskau mit einer durch „Pussy Riot“ zum Markenzeichen gewordenen Maske auf, das Feuilleton ist voll mit Artikeln zum Thema. Der ehrwürdige „Guardian“ veröffentlicht sogar die gerade eben erschienene neue Single von Pussy Riot im Internet und die russische GEMA drückt wahrscheinlich auch mal ein Auge zu.

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Kate Nash, Red Hot Chili Peppers, Sting, Peter Gabriel, Cornershop, Faith No More, Alex Kapranos von Franz Ferdinand, Neil Tennant von den Pet Shop Boys, Patti Smith, The Beastie Boys, Refused, Zola Jesus, Die Antwoord, Jarvis Cocker, Pete Townshend, The Joy Formidable, Peaches, Madonna, Genesis, Tegan and Sara, Johnny Marr, Courtney Love, Iiro Rantala, Propagandhi, Anti-Flag, Rise Against, Corinne Bailey Rae, Peter Hammill, Kathleen Hanna, Björk, Paul McCartney, Yoko Ono und viele, viele andere erklären sich mit „Pussy Riot“ solidarisch und kritisieren das unmögliche und menschenrechtsfeindliche Vorgehen der russischen Justiz zutiefst.

Nun ist es natürlich nicht sehr riskant, sich aus der sicheren westlichen Ferne mit 3 inhaftierten jungen Mädels (was ist eigentlich mit dem vierten Mitglied der Band, das auf dem inzwischen schon legendären Video ebenfalls zu sehen ist? Untergetaucht?) solidarisch zu erklären, und manch einer der oben genannten mag dies auch aus einer Gier nach Presseaufmerksamkeit tun – pikanterweise heißt „Pussy Riot“ abgekürzt „P.R.“, und die ist ja im Showgeschäft bekanntlich wichtig. Andererseits bringt ein gewisser Bekanntheitsgrad auch eine gewisse Verantwortung mit sich, man wird zu aktuellen Themen befragt und bezieht Stellung. Sicherlich ist es also nicht nur PR sondern auch mutig, wenn z.B. Madonna sich vor Ort in Moskau zu Pussy Riot äußert und mit Skimaske auftritt.

Aber eins fällt auf: Welches Genre schweigt komplett und beharrlich zu diesem Thema, wie meine englischsprachigen Kollegen „Eclamus“ und Norman Lebrecht schon vor mir anmerkten.
Richtig: wir sind es – Sowohl die klassische Musik wie auch die zeitgenössische Musik schweigen beharrlich zu diesem Thema. Weder bei der Ruhrtriennale noch bei den Darmstädter Ferienkursen noch bei den Salzburger Festspielen ist irgend etwas zu diesem Thema zu hören. Während die wahrhaft riskante und politische Oper „Die Soldaten“ von Bernd-Alois Zimmermann in der Felsenreitschule mit großem Bombast aufgeführt wird, ergötzen sich die Klassik- und Neue Musik – Stars und Sternchen bei Häppchen und Sekt an ihrer eigenen hermetischen und dann doch sehr kleinen Welt. Ein John Cage hätte posthum sicherlich nichts dagegen gehabt, wäre bei seiner Inszenierung der Europeras bei der Ruhrtriennale auch einmal eine Sängerin mit Skimaske aufgetreten, zumindest als kleine spontane Hommage, aber nein. Weltstars wie Cecilia Bartoli oder Anne-Sophie Mutter können viel, spielen weltweit, geben viele Interviews, schweigen aber komplett zu diesem Thema. Letztere sagt ja immerhin: „«…(ich verstehe) Musik auch als Kraft, Beziehungen zwischen Menschen zu knüpfen und für soziale Notlagen zu sensibilisieren.», was ja eigentlich auch das Anliegen von Pussy Riot ist. Warum geben die also nicht mal gemeinsam ein Konzert? Leider unvorstellbar.

Die Gründe hierfür sind sicherlich vielschichtig. Aber sie zeigen eines auf: wie sehr inzwischen die Welt der Klassik und der zeitgenössischen Musik inzwischen vom wirklichen Leben entfernt sind. So weit entfernt, dass es einfach auch keine Sau interessieren würde, wenn einer unserer Stars etwas zu der Thematik sagen würde? Vielleicht, vielleicht auch nicht.

Norman Lebrecht zitiert zu Recht das berühmte Beispiel Mozart/Beumarchais/Figaro, und allein in der klassischen Oper/Operette sind zahllose Beispiele von gewagten bis kontroversen Bezügen zum damaligen Weltgeschehen zu finden. Um so seltsamer scheint es, wenn man sich heute über politische Anspielungen in zeitgenössischen Inszenierungen genau dieser Werke mokiert, aber das ist ein anderes Thema.

Ich glaube aber, dass es einen schockierenden, viel banaleren Grund gibt, der dieses Schweigen in der Klassikszene verursacht, und dieser Grund ist ….Dünkel. Wir sind uns einfach zu fein dazu.

Einem Klassikstar wäre es nämlich schlicht und einfach peinlich, den Schulterschluss mit einer Band zu suchen, die man als musikalisch amateurhaft empfindet. Es sind ja schließlich „nur“ Punks, und die können ja vielleicht noch nicht mal – huch – Noten lesen! Und kommen vielleicht auch nicht aus gutgebildetem Haus, haben vielleicht auch nicht das Gymnasium besucht und auch nicht die gesammelten Werke von Adorno gelesen. Ich glaube deswegen schweigen unsere Stars, die Lang Langs, die Stadtfeldts, die Mutters, die Boulez‘, etc. – für sie ist Pussy Riot quasi gar nicht existent, nicht ernst zu nehmen. Sie üben lieber weiter ihre Tonleitern, studieren weiterhin ihre Partituren.

Und genau dieser Dünkel ist es, an dem wir letztlich zugrunde gehen werden.

Moritz Eggert

PS: Also her mit den Solidaritätsaktionen. Bevor es wirklich peinlich wird.

35 Antworten

  1. Michael Wüst sagt:

    Zu Funktion und Effekt von Pussy Riot gibt es auch andere Überlegungen, die in der atlantischen Presse nicht auftauchen. Effekt: Puss Riot bestärkt die ohnehin schon starke Bewegung einer konservativen Revolution mit ihrem Mussoliniverehrer Alexander Dugin. Funktion: Da gibt es in der alternativen Presse, wo es ja auch wirklich ernst zu nehmende Leute wie Paul Craig Roberts gibt, Vermutungen, dass Pussy Riot von amerikanischen NGO´s gesponsort wird. In jedem Fall kann ich bei einem Pussy-Gebet von Madonna nur kotzen. Und nach dem gesichtlosen Mob mit der Guy Fawks-Maske jetzt die gesichtlosen Pussies. Vorauseilende Selbstklonung. Sehe keinerlei erfrischende Effekte für Kultur und Hochkultur.

  2. Hufi sagt:

    Danke, Moritz. Ich denke der Grund ist, man hat angst, nicht wegen des Dünkels, sondern weil man den Informationen nicht traut. Was, wenn P.R. irgendein Käse verbrochen haben, der sich erst im Nachhinein lüftet, dann stehst du dumm da.
    In jedem Fall zu verurteilen ist das Urteil, das das Gericht gefällt hat. Es ist maßlos. PR ist wegen Pippifax verurteilt worden. Man muss sich vielleicht ja nicht solidarisch mit PR erklären, was denen ja auch nicht wirklich hilft, aber antisolidarisch mit dem Unrechtsstaat, der weit entfernt ist davon, ein humaner und verlässlicher Rechtsstaat zu sein. Das Urteil ist eine Schande, und das Recht dort ist eine Schande. (Und da ist es doch ziemlich schnurz, ob eine NGO irgendwen sponsert. So viel Geld kann man nicht haben, das zwei Jahre Lager aufwöge, wirklich nicht.)

  3. @Michael Wüst: Wenn ich die Hasstiraden von Paul Craig Roberts oder – noch schlimmer – Fanatikern wie Jonothon Blakely http://www.deliberation.info/pussy-riot-connections-to-soros/ auf Pussy Riot lese – voller vager Behauptungen (zu der Behauptung, „Pussy Riot“ sei von amerikanischen NGO’s gesponsort gibt es zum Beispiel nirgendwo solide oder gesicherte Aussagen, es wird einfach mal so in die Welt gesetzt), dann werde ich ehrlich gesagt gleich noch solidarischer. Das sind doch alles Verschwörungstheorien.

    Solidarisch mit Pussy Riot zu sein heißt nicht gleich Fanatiker zu sein, oder alles von „Pussy Riot“ oder der dahinter stehenden Künstlergruppe (deren viele provokanten Aktionen ich ehrlich gesagt teilweise sehr amüsant finde) gut und toll zu finden.

    Lassen wir doch die Kirche im Dorf: Pussy Riot predigen weder Hass noch Intoleranz, noch sind sie für mich kranke Fanatiker. Bei dem Kirchenauftritt oder Aktionen wie der Penisbemalung des KGB-Gebäudes handelt es sich um Dada nahehstehende Kunstaktionen. Ja, einen religiösen Ort zu stören ist ein „Prank“, wie man im englischen sagen würde, aber keine schwere Straftat. Niemand hätte sich aufgeregt, hätte man die drei Mädels zu ein paar Wochen Hausarrest oder sozialer Arbeit in der Gemeinde verurteilt (was angemessen gewesen wäre, denn dass es sich um eine Art Ruhestörung handelte steht außer Frage). In einem Klima des allgemeinen extremen Duckmäusertums, wie es nicht nur in Russland zu finden ist, sind provokante Aktionen wie der Kirchenauftritt vielleicht der einzige Weg, in der ansonsten kontrollierten Presse ein Statement zu machen.
    Letztlich geht es um Freiheit von Kunst und der Möglichkeit, auch Kritisches zu Staat, Kirche etc. zu äußern, oder auch schlicht und einfach sich über die Mächtigen lustig zu machen.
    Man muss daraus keine Religion machen, und ich will auch nicht dass man Autos anzündet und Menschen deswegen umbringt. Aber wer so hart gegen simple Provokation (und mehr ist faktisch nicht passiert) vorgeht, der muss scharf kritisiert werden können, das ist eigentlich alles.

  4. @Hufi: Die Angst davor dumm dazustehen ist eine Form von Feigheit, oder nicht?

  5. Alexander Strauch sagt:

    „Klassik und Politik, das geht doch nicht!“ „Neue Musik und Politik, na ja, stöhn, ächz.“ So abgestuft dürfte es sich anfühlen…

    Nur eine kleine Bemerkung: Der „Soldaten“-Regisseur der diesjährigen Zimmermann-Opern-Produktion der Salzburger Festspiele Alvis Hermanis soll seine Inszenierung genau Pussy Riot gewidmet haben, wie die FR per dpa-Meldung von der Premiere vermeldete, ja gar darin die Oper von „Die Soldaten“ zur „Pussy-Riot-Oper“ umbenannt wird.

    Was man von Pussy Riots Punk-Gebet künstlerisch auch immer halten mag, weißt es doch auf die allzu enge Verquickung der Machthaber der russischen „gelenkten Demokratur“ mit der russisch-orthodoxen Kirche hin, die die neue Nähe zur Politik geniesst und in ihr wohl einen engen Verbündeten sieht, das Land zu re-christianisieren bzw. umgekehrt Putin & Co. diese Allianz nutzen, um durch Belegung sozialer Themen im konservativ-politisch wie religiösen Sinne Russland in immer neuen „Empörungen“ zu einen und den eigenen Machenschaften abzulenken. Und da traf Pussy Riot nicht zum ersten Mal eine wunde Ferse genau an der richtigen Stelle.

    Aber warum soweit von zuhause wegblicken? Sieht man nach Ungarn rüber, konnte man seit der Regierungsübernahme durch das Kabinett Orban II sehr wohl beobachten, wie durch und durch mit klassischer Musik durchtränkte Musiker grosse Probleme bekamen, nicht geradewegs ins Gefängnis wanderten oder mit kritischen Inszenierungen für Rabatz sorgten: mir nichts, Dir nichts wurde Balazs Kovalik aus der Staatsoper geworfen, sah sich Andras Schiff genötigt, Ungarn bis auf weiteres zu boykottieren. Wie bei Russland mir nun Fehler unterlaufen sein können, so wohl auch mit Ungarn. Dennoch zeigt sich, dass klassische Künstler genauso ähnlich treffen kann wie Vertreterinnen des Punks, je nach Weltregion mit subtilerer oder deutlicherer Härte.

    Nochmals zur FR: Unterstützer von Pussy Riot stürmten die Tage, wie auf youtube zu sehen, eine Messe im Kölner Dom. Wurden dann sofort rausgeworfen und erwarten nun eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch, etc. Immerhin schien man in der Kirche für sie wie Pussy Riot ein Gebet zu sprechen, wohlgemerkt erst nach dem Vorfall. Die Demonstranten erklärten dann ausserhalb des Doms ihr Anliegen und stellten fest, dass sie genauso wie Pussy Riot aus der Kirche geworfen worden seien. Da ist was dran. Aber wie zurecht angemerkt: es ist dann der grosse Unterschied, wie hier oder in Russland mit solchen Protesten verfahren wird. Ganz ehrlich gesagt, um Herrn Wüst aufzugreifen: Pussy Riots maskenlose Reaktionen vor Gericht machten sie mir da erst sympathischer als zuvor mit ihrem Punk Gebet, die deutschen Unterstützer sieht man ohne Kampfhaube auch erst vor der Kirche, was sie mit ihrem Anspruch aber mir noch lange so sympathisch macht wie das russische Frauentrio vor dem Kadi, wie ätzend doch die Einsineinssetzung mit den Russinnen

    Die Frage ist letztlich, wie man richtig auf die ganze Sache reagieren kann und soll. Wohl ist das Kölner Trio dann doch wieder auf dem besseren Pfad als Alvis Hermanis. hat man doch das Gefühl, dass er mit diesem Protestanspruch von etwaigen Problemen seiner Inszenierung der Zimmermannoper ablenken konnte, so sehr er es auch aus bester Überzeugung tat: Hat man in Salzburg doch wohl wesentliche mediale Herausforderungen der Partitur einfach weggelassen, keine heutige mediale Umsetzung gesucht, sondern rein aufs Regietheater gesetzt – immerhin schien dies auch ohne Pussy-Riot-Widmungs-Rückversicherung irgendwie geklappt zu haben. Sonntagnacht können wir uns ja alle selbst im TV ein Bild davon machen.

    Ob nun Klassiker oder Neu-Musiker: Immerhin drücken etliche dieser Menschen z.B. auf Facebook durch Teilen von Bildern, Berichten oder Kommentaren ihre Skepsis gegenüber der russischen Justiz aus…

  6. Bernhard Gal sagt:

    … nur der Vollständigkeit halber:

    S0 19.08.2012
    11h matinée in der kapuzinerkirche murau
    klaus lang: “hommage a pussy riot”. orgelkonzert

    http://www.hotelpupik.org/

    recht aufschlussreich ist die folgende anmerkung:

    „klaus lang springt für hermann nitsch ein,
    da bischof kapellari für diesen ein auftrittsverbot
    in steirischen kirchen verhängt hat.“

  7. Lieber Moritz, du hast zum Teil Recht mit deinem Vorwurf gegen mich. Ich persönlich bin da einfach etwas vorsichtig. Vermutlich ist alles eitel Sonnenschein um P.R. Sie sind ja übrigens kein Einzelfall.

    Ich habe mich stundenlang mit P.K. und M.N. auf Facebook um P.R. gestritten. P.K. nannte die Aktionen von P.R. „scheiss pussy riot. das sind primitive kühe.“ Später: „Ist das wieder diese „westliche“ dummheit gegen jeden schwachsinn ohne hinterzufragen zu protestieren, oder ist das wirklich ernst gemeint für ‚blöde kühe‘ sich unbedingt einsetzen zu wollen, die kirchen verunreinigen mir schrottdreckkunst???“

    Ich fand das bemerkenswert – allein die Wortwahl und dann die Art. Da kann man sich den Mund erfolglos fuselig reden.

    Der Vorwurf, den du einem „großen“ Teil der Szene machst, scheint mir sehr gerechtfertigt. Dennoch habe ich mit dem Solidarisieren so meinen Kummer wie mit dem Petitionismus allenthalben. Leute, wie Klaus Lang, machen dann eben doch mehr als bloß „solidarisieren“, sie gehen selbst ein Risiko ein. Das finde ich mutig und das tut wirklich Not. Deswegen bind ich froh, dass du das Thema aufs Tablett bringst. Auch das ist mutig, scheint mir, in dieser manchmal wirklich reaktionär-langweiligen Szene.

  8. Teleskop sagt:

    Am Thema vorbei, ja ich weiß, aber: aus den bekannten ästhetischen Gründen – Stichwort „likes and dislikes“ – wäre Cage wohl alles andere als angetan davon gewesen, wenn man die „Inszenierung“ der Europeras, die ja eben keine Inszenierung ist, um eine „Hommage“ ergänzen würde, egal, wie gut gemeint.

  9. Erik Janson sagt:

    Oh no,
    nicht hier auch noch Pussy Riot.
    Ik sag nuscht mehr dazu. Nase voll, sollen die doch alle toll finden … ;-)

  10. Erik Janson sagt:

    Ich sag nur nochmal zusammenfassend zu Pussy Riot:
    Setzen (oder sitzen: nur die Dauer ist unangemessen): sechs
    Begründung: Thema verfehlt
    Putin in die Hände gespielt
    Wer ist den P.K.?

  11. wechselstrom sagt:

    Ich bin ein Fan von P.R.
    Super Performance – kann mit diesem Song nur in der Erlöserkirche stattfinden – erwarte weitere gute Songs und zündende musikalische Ideen nebst Aktionen. Künstlerisch im Kontext von Punk-Aktionismus eine absolute Top-Vorstellung

    Und: die Verschwörungstheoretiker, Bedenkenträger, Relativierer, Tagebuchschreiber sollen mal die Klappe halten und ihre Notenhälse mit Lineal geradestreichen.

  12. Max Nyffeler sagt:

    In der ganzen Riesenaufregung um die Gruppe „Muschi-Aufstand“ (für Nicht-Englischkundige: „Pussy Riot“) wird merkwürdigerweise einfach unter den Tisch gewischt, dass es da zwei Aspekte gibt, die zwar indirekt miteinander zu tun haben, aber eben doch unterschieden werden müssen: Die Rechtsprechung in Putins Reich und die Kirche. („indirekt“: Es ist bekannt, dass die orthodoxe Kirche in Russland schon immer sehr viel „staatsdienerischer“ war als im Westen.) Es gibt also einen politischen und einen religiösen Aspekt. Was den politischen Aspekt angeht, so muss man diesen Prozess als Farce kritisieren. Was den religiösen angeht, so haben die Drei leider ganz großen Mist gebaut, denn sowas ist nicht nur politisches Kamikaze in Russland, sondern auch eine massive Verletzung religiöser Gefühle der ganz normalen Gläubigen. Ich vermute: Dieses ist der Grund – und nicht weil sich z.B: Cecilia Bartoli „zu fein“ ist -, dass sich die Solidarität mit ihnen in Grenzen hält, und dass sie nun vor allem von denjenigen kommt, die sich ins Fäustchen lachen, weil hier wieder einmal die christliche Religion so richtig flott in den Dreck gezogen worden ist. In Russland ist man eben noch viel empfindlicher in Sachen Blasphemie als im spirituell abgestumpften Westen, wo das symbolische Auf-den-Altar-Scheißen den allgemeinen Beifall der sog. Aufgeklärten findet (wofür dann sogar noch der Begriff „Kunst“ herhalten muss). Das sind einfach Fakten, die man in Betracht ziehen muss. Auch als Atheist und/oder Kirchenhasser – es ist eine reine Frage der richtigen Einschätzung der Realitäten. Idealistisches Revolutionsgetue in den Feuilletons oder in der „Netzgemeinde“ ist nur heiße Luft.
    Das Fiese ist natürlich, dass Putin genau weiß, dass die Mehrheit der Russen diese Aktion eklig findet, und dass er seine Macht damit bestätigt sehen kann.
    Und die drei Mädchen? Die sitzen jetzt in der Patsche, aus der ihnen auch die große Madonna nicht helfen kann. Und auch Du nicht, Moritz. Mit Ausnahme der vielleicht 5 % Liberalen, die dagegen protestieren und der 0,5 %, die auf die Straße gegangen sind und in den westlichen Medien irreführend zur „Stimme Russlands“ stilisiert werden, wird es den Leuten dort egal sein, und kaum jemand wird sich um sie kümmern. Vielleicht noch am ehesten einige fromme Russen, denen die drei missgeleiteten Kinder leid tun und die sie im Gefängnis besuchen. Das sind dann die wirklich Solidarischen, nicht die risikolosen Polit-Schreier im Westen, für die die Drei nur Objekte ihrer politischen Scharmützel oder ihres moralischen Narzissmus sind.
    Der bunte Medienaufruhr im Westen wird ihnen die nächsten drei Jahre um keinen Deut erleichtern (außer Putin macht irgendeinen politischen Deal und lässt sie ausreisen). Er wird nur für ihre Vermarktung ab 2015 von großer Bedeutung sein, und dann wird ihnen ihr Fell nochmals abgezogen werden, diesmal von den West-Unternehmen, die sich davon einen Reibach versprechen. Aber immerhin, die drei Pussies sind dann in unserer Freiheit und dürfen weiter ihre bunten Kapuzen spazieren führen.
    Da fragt man sich: Cui bono?
    Diese ganze Kampagne halte ich für leicht durchschaubare Gratisempörung, das Produkt eines glücklichen Zusammentreffens von Rudeljournalismus und Sommerloch. Das Pop-Publikum weltweit lässt sich von der Medienwoge mittragen und die Quoten hüpfen vor Freude.
    Und Moritz, nichts für ungut, aber offen gesagt, ich nehme Dir Deinen Protest auch erst ab, wenn Du im Münchner Liebfrauendom – und nicht auf der Konzertbühne – aus Solidarität einen entsprechenden Radau mit Strickmütze veranstaltest und Dich mit Kardinal Marx anlegst.

  13. Cesip Xynic sagt:

    Großartig. Ein Löwenanteil der Kommentare bestätigt performativ das im Artikel Gesagte, dass man auf den Gedanken verfallen könnte, der Autor hätte sie selbst verfasst (doch der Autor möge mir verzeihen – dies letztere würde ein wohl seltenes literarisches Talent erfordern).

    Die Lektüre bestätigt wie so oft: es lässt sich kaum etwas schlimmeres denken als ein genießerischer Intellektueller. Man muss sich jedes Mal die Hände waschen.

    Man muss, man muss sich mit aller Kraft zwingen, Crust Punk zu hören, selbst wenn man ihn aus tiefstem Herzen hasst. Weil man bei Zimmermann- und Boulez-Aufführungen Zuckungen bekommt, einfach aufgrund des sozialen Umfelds.

    Inhaltliche Kommentare erübrigen sich hier. Die amüsanten Versuche einer Analyse der Rollen von Kirche und Staat in Russland lassen vermuten, dass die Autoren vor zwanzig Jahren ein paar Seminare in der Slawistik belegten, möglicherweise sogar einen zweiwöchigen Urlaub in Moskau hinter sich brachten – freilich ist wahrscheinlicher, dass der pure Wille dazu, eine abweichende Position zu formulieren, über alles obsiegt.

  14. wechselstrom sagt:

    @ Max Nyffeler:
    Sie sind in Ihrem eigenen Gefängnis, denn Sie diskutieren nicht über die Verhältnisse in Russland; Ihre Argumente beziehen sich auf die Diskussion selbst (siehe letzter Abschnitt, in dem Sie Moritz direkt ansprechen)
    Das ist per se noch keine Gefangenensituation, sie wird aber dazu, wenn man diese Diskussion (über die Diskussion) mit Moral unterfüttert.
    Sie zerren ein anonymes russisches Mütterchen hervor, deren religiose Gefühle verletzt sind (jetzt könnte ich Ihnen auch zurufen: Zeigen sie mir die, wie heisst sie); dann kommt das Argument der großen Masse der Russen, die die P.R.-Aktion verurteilen (welche Statistik legen Sie zu Grunde, oder sind es nur ein paar aufgeschnappte Straßeninterviews?) gegen die kleine Masse der Protestierer (sie reden da von 5%, 0,5%),
    und aus dieser scheinbar tatsachenorientierten Gemengelage konstruieren sie im Hintergrund einen Moralkodex der Diskussionskultur, den Sie dann Moritz unter die Nase reiben.

    Ich könnte jetzt Ihre Respektbkundungen gegenüber den religiösen Gefühlen der orthodoxen Christen mit „angeblich“ oder „unglaubhaft“ attributieren; in dieser Diskussionssyituation säßen wir beide in verschiedenen Zellen des gleichen Gefängnisses, und würden uns gegenseitig die Achtung wegnehmen – Sie sehen, was Moral anrichten kann.

    Damit Ihre Achtung vor den religiösen Gefühlen (warum nicht vor der Religion?) nicht allzusehr überbordet, möchte ich versuchen Sie aus Ihremm Gefängnis zu befreien:

    Auch in Westeuropa gab/gibt es ja einen künstlerischen Aktionismus, z.B. ist der Begriff „Wiener Aktionismus“ inzwischen ein integraler Bestandteil im Kanon der Kunstgeschichte. Hier ein Zitat:

    Der Narrenbischof hält in der Früh einen feierlichen
    Gottesdienst und spricht den Segen, während
    die übrigen Geistlichen, meist als Dirnen, Kuppler
    oderMusikanten verkleidet, im Chorraum tanzen und
    springen und zotige Lieder singen. Die Subdiakone
    verzehren auf dem Altar Würste, und während der
    Wandlung spielen sie mit Karten und Würfeln. Einer
    legt ins Rauchfaß statt Weihrauch Stücke von alten
    Schuhsohlen und Exkremente, damit dem Messelesenden
    Priester der Gestank in die Nase steige. Sie
    halten die Bücher verkehrt und singen keine Psalmen
    und liturgische Gesänge, sondern murmeln unverständliche
    Worte oder blöken lautstark wie das
    Vieh. Die größten Ausschweifungen erlauben sich
    die Geistlichen nach der Messe – einige entkleiden
    sich völlig und tanzen so auf den Stufen des Altars.

    Ist das nicht super?
    Uuups, da ist mir ein zeitgenössischer Bericht über das Mittelalter hineingerutscht – sorry
    weitere Zitate (wissenschaftlich abgesichert) hier

    Lasset uns betetn!
    Für die Befreiung von Pussy Riot aus den russischen Gefängnissen
    Der Heilige Geist komme herab.
    Amen!

    – wechselstrom –

  15. Max Nyffeler sagt:

    Lieber Wechselstrom,
    wir haben immer interessante Diskussionen zusammen, aber ich glaube, hier hat es keinen Sinn, weiterzudiskutieren, denn wir sind einfach auf verschiedenen Dampfern unterwegs. Da hilft auch formale Logik der Verständigung nicht auf. Und so schön sich mittelalterliche Zitate anhören (man könnte hier auch Luthers saftige Pamphlete gegen den Papst anführen) – heute würden sie vom Presserat bzw. Menschenrechtsbeauftragten scharf verurteilt wegen Diskriminierung bzw. menschenverachtenden Äußerungen über Andersdenkende.
    Das gilt allerdings nicht für die von Ihnen zitierten Zeilen, da sie sich ja nicht auf Personen beziehen. Sie beschreiben (offenbar aus heutiger Sicht) die damaligen kulturellen Auseinandersetzungen. Diese spielten sich aber damals, im Unterschied zu heute, noch innerhalb eines geschlossenen Weltbilds ab („systemimmanent“), was den Angriffen eine andere Qualität verleiht. Dasselbe gilt für Dantes Comedia, die ist ja auch nicht ohne, denn dort waten die Bischöfe z.T. ja auch in der Scheiße. Dante hat aber nicht die Religion durch den Kakao gezogen, indem er im Dom herumgebrüllt hat. Er hat eben Kunst gemacht.

    Was die Wiener Aktionisten angeht, so sind die mir nicht unbekannt. Otto Muehl, ein kaputter ehemaliger Nazi-Offizier, wurde wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Minderjährigen in seinem Sekten-Camp zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, und Hermann Nitsch, der heute als kirchlicher Narr unterwegs ist, lernte ich einmal persönlich kennen. Als er in Köln um 1970 eine seiner Aktionen plante, bei denen eine nackte, am Boden liegende Frau bepisst und mit Tierblut begossen wurde, fragte er zuvor bei den Kölner Kursen für Neue Musik, die damals Mauricio Kagel leitete und an denen ich teilnahm, nach, ob wir als „Assistenten“ mitmachen würden. Als wir fragten, was er denn zahle, brüllte er uns an:“Scheißkapitalisten!“ Das war natürlich eine schlechte Geschäftsgrundlage für eine Zusammenarbeit.

    In Anbetracht solcher Dinge bin ich eben etwas skeptisch gegenüber dieser „Kunst“-Richtung. Unter Aufklärung stelle ich mir etwas anderes vor.

  16. @Hufi: Ich habe Dir gar keinen Vorwurf gemacht! Ich wollte nur bekräftigen, dass das Schweigen der Stars vielleicht auch teilweise Feigheit ist, aus den von Dir sicherlich auch richtig benannten Gründen….

    Ansonsten: mal wieder eine aufregende Diskussion hier, puh….

    Es ist interessant, dass manche beim Thema Kirche/Kunstaktionen sehr empfindlich reagieren. Ich bin selber nicht sehr religiös aufgewachsen und kann mich daher oft schwer in diese Empfindlichkeit hineinversetzen, respektiere sie aber.

    Ich glaube übrigens, dass gerade dies letztlich auch Pussy Riot getan haben – denn sie haben ihre Aktion eben bewusst NICHT bei einer Zeremonie oder einer Messe abgezogen, sie wollten eben niemandem Gewalt antun und niemanden stören- in dem Video wird auch ersichtlich, dass die Kirche quasi leer war, da wurden vielleicht maximal 3-4 Gläubige gestört, und man hätte ja einfach verlangen können, dass die Girls sich bei denen persönlich entschuldigen. Weder wurde die Kirche beschädigt, noch gab es „sexuelle Bewegungen“ der Sängerinnen (wie manch notgeiler Beobachter hineininterpretierte) oder satanistische Altarschändigungen. Die Hausfrau in Spanien hat letztlich mehr nachweisliche Kirchenschändigung betrieben, als sie den Jesus als Äffchen übermalte!

    Ohne jetzt Pussy Riot auf diese Stufe stellen zu wollen, aber Blasphemie hat große Tradition in der Religion, ja ist sogar der Ursprung vieler, ja eigentlich aller Religionen. Es ist noch nicht allzulange her (kosmisch gesehen), da begehrte ein junger Jude in besetztem Land gegen die Kirche auf, die dekadent geworden war und mit den Mächtigen korrupt paktierte. In kurzer Folge zog dieser Mann eine Reihe von höchst provokanten Aktionen mit einer kleinen Künstlergruppe ab, die er um sich geschart hatte. Darunter waren zum Beispiel die Inszenierung einer unsittlichen Massenorgie (Besäufnis), sowie nekromantische Praktiken (Totenbeschwörung), öffentliche Dämonenaustreibungen und die Inszenierung von verwirrenden esoterischen Spektakeln. Außerdem suchte dieser Mann bewusst die Nähe von Prostituierten, Kriminellen und geistig Behinderten und erklärte sie in einem berühmten Zitat als heiliger als die selbstherrlichen Kirchenväter. In einer spektakulären Aktion stürmte er sogar eine Kirche, störte eine Zeremonie und warf die Reliquien unter wüsten Beschimpfungen auf die Strasse.

    Auch damals reagierte man nicht sehr gelassen – dieser Aktionskünstler wurde schließlich festgenommen und bei lebendigem Leibe gekreuzigt.
    Sein Name war Jesus von Nazareth.

    Pussy Riot kam im Vergleich dazu noch ganz gut weg, und selbstverständlich wollten und wagten sie auch nicht so viel.

    Aber wenn man genau diesen Mann heute als Sohn Gottes anbetet, muss man eben auch anerkennen, dass solche gerade beschriebenen Provokationen schon auch dazu gehören, wenn man etwas verändern will, und vielleicht etwas gelassener damit umgehen, so einfach ist das.

  17. Hufi sagt:

    Lieber Eggi, ich musste genau an den gleichen Vergleich denken.
    „Blasphemie hat große Tradition in der Religion, ja ist sogar der Ursprung vieler, ja eigentlich aller Religionen.“ Ganz genau. Ob Kirche oder Politik – wenn sich nicht hier wie da was ändert, wenn nicht die Schramms und Hildebrandts gelegentlich denen publikumswirksam mal auf die Senkel treten würden, wenn nicht Martin Luther einmal richtig sauer gewesen wäre, wenn nicht die Skandalkonzerte gewesen wären, etc. pp. – wir hätten wohl nicht mal Musik außer drei bis sechs sehr präzise kodifizierten Sachen. Subjekt adieu, kein Artikel 1 GG, weil es keine Würde gäbe …

    Weißt du – früher habe ich das Wort vom Spießertum immer abgelehnt, weil es häufig von spießigen Antispießern verwendet wurde, aber wenn ich jetzt sehe, mit welchem Muff hier und da von in Andacht gestörten Kirchengängern geredet wird, wie respektlos das doch sei etc. pp., dann erlaube ich mir doch diesen Herrschaften zu entgegnen: „Geht doch einfach heulen – lasst es euch schön gemütlich gehen“.

    NB: Was hatte Gerhard Richter unter Vorwürfen zu „leiden“, wegen seiner Glasfenster am Kölner Dom. Warum?

  18. Max Nyffeler sagt:

    Schramm und Luther, Jesus und Pussy in einem Atemzug, hm… Jetzt wird’s aber komisch, es fehlt nur noch Prinz Harry als Buddha. Also ich hoffe, das geht so unterhaltsam weiter!
    Übrigens: Ich habe nie gesagt, dass ich persönlich mich provoziert fühle, ich bin auch kein gläubiger Russe. Ich habe nur festgestellt, dass im Westen das symbolische Auf-den-Altar-Scheißen den allgemeinen Beifall der sog. Aufgeklärten findet, und ich wollte nur dem west-medialen Pussy-Kult eine andere Perspektive gegenübersetzen, weil ich denke, dass es nicht schaden könnte, die Sache auch einmal von außen zu sehen.
    Aber, Martin (um den FB-Disput hier nochmals kurz aufzugreifen), es ist natürlich auffällig, dass Du stets so allergisch gegen Andacht etc. reagierst. Warum soll das weg? Was ist böse daran? Gibt’s ein Problem? Vielleicht beneidest Du ja Moritz – er hat es leichter, denn ihm scheint das alles bereits egal zu sein.
    Aber ich möchte da nicht indiskret werden. Es kann ja auch sein, dass diese – heute erträgliche – Leichtigkeit des Seins (hallo, Zitat) nicht mehr eine System-, sondern eine Generationenfrage ist und ich zu schwerfällig bin, um dieses glatte Abperlenlassen in Sachen religiöser Empfindungen so rasch nachvollziehen zu können. Irgendwie fehlt mir die Plastikhaut.
    Doch wir können gerne über Politik und meinetwegen auch Aktionskunst im fernen Moskau weiter diskutieren, das ist einfacher, weil es uns nicht betrifft. Also, hier mein Spieleinsatz: Ich bin der Meinung, Putin ist ein Antidemokrat und er spielt mit den Pussies sein macchiavellistisches Spiel (worin er sich von Berlusconi unterscheidet). Jetzt bitte ich um entschiedenen Widerspruch.

  19. wechselstrom sagt:

    Lieber Herr Nyfeler,

    zunächst handelt es sich bei dem von mir gepoteten Link um Zitate aus wissenschaftlichen Werken, die wiederum auf zeitgenössische Berichte des Mittelalters zurückgehen.
    Tenor dieser Sammlung ist das Verhalten des mittelalterlichen Gläubigen inclusive des niederen Klerus(!) zur Carnevalszeit – diese beschränkte sich im Mttelalter nicht nur auf 2 Tage sondern dauerte Wochen, wenn nicht Monate.
    Man vertrieb sich die kalte Jahreszeit mit Späßen, die auch vor den Kirchentoren nicht Halt machten, und nutzte diese Zeit auch um den Oberen kräftig die Meinung zu geigen.

    Kirchnraum ist also keinesfalls so heilig, dass durch enen gelegentlichen Abusus die Welt der Gläubigen zusammenbricht.

    Moritz hat gute Argumente gebracht, die Sie leider verzerrend und entstellend darstellen – muss man nicht weiter diskutieren.

    Ihre Kernthese aber lautet: P.R. machen eine künstlerisch unbedeutende (manche meinen besch….) Aktion und verursachen dadurch, dass sie damit den Kirchenraum benutzen einen Schaden (welcher Art auch immer – einmal sind es die Glübigen, die beleidigt werden, ein andermal wird behauptet, Putin wird dadurch in die Hände gespielt)

    Mühsam, über die künstlerische Qualität der P.R.-Performance hier zu diskutieren, aber beantworten Sie bitte folgende Frage:
    Angenommen, die P.R-Performance wäre so gut gewesen, dass auch Ihr ästhetisches/künstlerisches Urteil positiv ausgefallen wäre, wäre dann eine Aktion in der Erlöserkirche „erlaubt“/ weniger verwerflich/ möglich oder gar notwendig gewesen?

  20. wechselstrom sagt:

    Lieber Herr Nyffeler,
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  21. Max Nyffeler sagt:

    Lieber Wechselstrom, ich finde es grundsätzlich nicht gut, einen sakralen Raum mit politischen Protesten zu füllen. Das machen hier die Kirchen zwar andauernd, indem irgendwelche Gitarrensänger die Konzerne in der 3. Welt anprangern, aber wie ich schon sagte, hier ist das normal und also warum nicht. Aber die orthodoxe Kirche ist noch nicht so banalisiert, und da sollte man, wie ich finde, nicht so dreinhauen. Was bringt die Entsakralisierung? Nichts, außer Schadenfreude derer, die nicht dazugehören.
    Wenn Sie schon einmal eine östliche (oder auch griechische) Liturgie miterlebt oder auch nur die entsprechenden Gesänge gehört haben, verstehen Sie sicher, was ich meine. Das ist noch ein ganz anderes Ereignis als bei den sog. Landeskirchen hierzulande, wo die Pfarrer selbst nicht mehr richtig an das glauben, was sie sagen und die Gemeinden entsprechend veröden. Und deshalb finde ich es einfach traurig, diese Kultur zu zerstören.
    Es geht eben nicht darum, wieviele Personen sich provoziert fühlen, sondern grundsätzlich um den Jahrtausende alten Respekt vor dem sakralen Raum. Mircea Eliade hat in seinem Standardwerk „Das Heilige und das Profane“ dazu hoch interessante Sachen gesagt, z.B. dass der Sakralraum ursprünglich ein Raum war, in dem sich architektonisch nicht nur das Jenseits, sondern auch die Zeit manifestierte („tempus“ und „templum“ als verwandte Begriffe, der vom Kreuz geschnittene Kreis als raum-zeitliches Symbol, etc.) Griseys „Quatre chants pour franchir le seuil“ (auch vier Öffnungen/vier Schwellen) greifen meines Erachtens etwas von dieser Symbolik auf.
    Das macht letztlich das „Heilige“ eines Sakralraums aus: große menschheitsgeschichtliche Symbole, die sich sowohl bei den Indianerstämmen Amerikas als auch bei den alten Hochkulturen des Orients und – in verschwindendem Maße – auch heute noch zeigen.
    Aber solche Überlegungen, wenn sie überhaupt noch ein heutiges Gehirn erreichen, gelten leider heute als lächerlich, viel wichtiger sind die bunten Strickmützen. Jede Zeit hat eben ihre Symbole, und die unsrigen sind halt die Mützen. Ja nun. Da kann man auch irgendwie verstehen, dass die Muslime für diese Mentalität nur tiefe Verachtung übrig haben.
    Es grüßt Sie Max Nyffeler

  22. Hufi sagt:

    Nein, Max, mach es dir nicht so einfach und verschwinde im Trüben. Wechselstrom stellt haarklein die richtige Frage. Denn deine Antwort ist, man kann „dies“ nicht kritisieren, weil der Raum tabu ist. Und zwat ohne Ausnahme. Was da passiert ist unantastbar. Im Prinzip so unantastbar wie ehedem der gregorianische Choral. Mit dem gleichen Begründung oder die lateinische Liturgie mit der gleichen Begründung etc. pp.

    Ich selbst bin ein stockkonservativer Katholik, das kannst du mir schon glauben, und ich bin hart im Nehmen. Mich hat auch das Neue geistliche Lied umgehaun und keine popigen Vaterunser. Ich habe meine Andacht innerhalb wie außerhalb des Raumes der Kirche gefunden. Was mich aus der Kirche treibt ist die Institution, nicht der Glaube.

    Ich finde es immer sehr witzig, wenn andere über die Andachtsfähigkeit des einen oder anderen sich ein Urteil anzumaßen erlauben. Ich kann nur sagen, wer dieser Krücke der Architektur bedarf, muss damit leben – auch damit leben, wenn er diese Architektur nicht mehr erreichen kann.

    Ich finde schon, man sollte nicht unbedingt ein Ritus stören, wenn der nicht selbst gefährlich ist. Ich finde aber schon, man kann ihn dann und wann stören, wenn es die Lage erfordert. Und ehrlich gesagt, verlange ich das gerade von den Mitgliedern einer solchen Institution.

    Was darum schon gleich gar nicht geht: Verallgemeinere nicht Gruppen wie Muslime auf ganz fixierte Positionen. Das ist falsch, unpräzise wie die Formulierung, alle Schweizer Musikjournalisten haben einen an der Waffel.

    Mit anderen Worten: Religion und Religiosität ist kein rechtsfreier, kritikbefreiter Raum. Will er dies aber sein und sich so verstehen, sollte er auch so konsequent sein, seine Riten für sich zu behalten und einfach die Pforten für das Außen schließen. Es gibt solche Plätze in der Welt – gar nicht mal so schlechte. Dort ist man vor der Wirklichkeit außen so sicher, wie man es will.

    Ansonsten stört mich nicht einmal Kunst in der Kirche.

  23. Hufi sagt:

    Ergänzend: Auch die Volksmusik, Max, in anderen Ländern ist erstaunlicher als hier im westlichen Ödland. Das hat mit der Kirche so viel dann auch nicht zu tun. Es gibt ja Religiosität sogar mit ohne Musik andernorts. Eigentlich stört die alles, sogar die eigenen Gläubigen.

  24. wechselstrom sagt:

    Lieber Herr Nyffeler,

    kein Zweifel, dass die Gesänge der russisch-orthodoxen Kirche herzzerreißend sind. Viele der Opernsänger Russlands haben ihre „Grundausbildung“ und prägende Zeit dort erfahren; es ist ein ähnliches Phänomen wie das Verhältnis zwischen dem amerik. Spiritual und seiner weltlichen Form dem Blues.

    Wir leben aber in einer Zeit, die geprägt ist durch die Trennung von Staat und Kirche. Diese Trennung kommt uns im Westen als so selbstverständlich vor, dass der Kontakt mit anderen Gesellschaften, wie bspw. den muslimischen uns in Verwirrung stürzt.
    Die christlichen Kirchen selbst haben aber immer auch politisch agiert (bis zu dem Zeitpunkt, als z.B. in Deutschland Bismarck einen Schlussstrich unter diese Bemühungen setzte), haben die Rechtsordnung (mit-)bestimmt, haben, je nach Zeitalter und politischer Lage Könige und Kaiser eingesetzt – manchmal war es, z.B. in Russland, auch umgekehrt, dort setzte gelegentlich der Zar den Patriarchen ein und Staatsdiener und Kirchenvorstände befanden sich in Personalunion und und und….
    Dann sollte man noch die unzähligen Schismen innerhalb der christlichen Kirche betrachten, auch die feinen Verästelungen der orthodoxen Kirche selbst (griechisch, finnisch, japanisch, russisch …) und deren Abhängigkeiten, bzw. Unabhängigkeiten voneinander, von den einzelnen Nationalstaaten, auf deren Gebiet sie sich befinden, und den darin verankerten Rechtsordnungen.

    Bei all diesen Kirchenspaltungen ging es ja nicht nur um Glaubensfragen, sondern auch um handfeste politische Machtinteressen, die sich (Kirche und Staat waren ja noch nicht getrennt) notwendigerweise mit Glaubensfragen mischten, bzw. im Mantel des Glaubens daherkamen.

    Das alles weiß natürlich das tiefreligiöse russische Mütterchen nicht – es interessiert Sie vielleicht auch gar nicht, und muss es auch nicht, zumindest in Bezug auf die Religiosität selbst.

    Aber daneben – und jetzt kommt die Krux: – daneben oder darin – existiert eben in Russland auch ein, sagen wir mal aufgeklärtes Bürgertum – das sind ja nicht notwendigerweise alles Atheisten – die vielleicht die Trennung von Staat und Kirche befürworten und sich eine moderne funktionale Gesellschaft nach westlichem Muster wünschen, in der es nicht der Willkür des Beamten oder eines Putin obliegt, was mit einem geschieht.

    Zerren wir jetzt die Menschenrechte hervor, so gibt es eben nicht nur den Schutz der Religion (auf den beziehen sich auch viele Muslime, wenn sie sich „beleidigt“ fühlen) sondern auch Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit.
    Religionsfreiheit ist aber kein Premiumrecht innerhalb der Menschenrechte, und auch kein „premium inter pares“, wie vielleicht manche Kirchenobere, gleich welcher Glaubensrichtung angehörig, gerne argumentieren, sondern befindet sich im Gleichgewicht mit den anderen Rechten; ein Gleichgewicht, das labil ist, und immer wieder, sozusagen von Fall zu Fall, neu austariert werden muss.

    In meiner eigenen Einschätzung (vielen anderen wird es ebenso ergangen sein) habe ich das so austariert, dass ich dem politischen Freiheitsbestrebungen, die sich (geglückt oder nicht geglückt) im Song von P.R. ausdrückten den Vorzug gab.
    Den Protestbefürwortern zu unterstellen, das Kirchen-Bashing sei westliches „Gewohnheitsrecht“, das man in den Osten einführen sollte, ist zu kurz gegriffen.

  25. wechselstrom sagt:

    p.s:
    der Wiener Aktionist Günter Brus hatte den Sitz seines Autos mit der österreichischen Nationalfahne bepolstert, worauf er zu 6 Monaten verschärften Arrests verurteilt wurde.
    Um der Strafe zu entgehen, zog er nach Deutschland (ins Exil). Er konnte erst wieder zurückkehren, als in Österreich der verschärfte Arrest abgeschafft wurde.

    p.p.s:
    Herabwürdigung von Staatssymbolen wird heute in Deutschland (und auch in der Schweiz) mit bis zu drei Jahren Haft bedroht, in Österreich nur mit bis zu einem Jahr.
    Hmm, wie kommt dieser Unterschied im Rechtsverständnis zu Stande? – österreichischer Schlendrian?

  26. Alexander Strauch sagt:

    danke wechselstrom!

  27. Max Nyffeler sagt:

    Ist ja gut, Ihr Freunde der bunten Mützen, strengt Euch nicht so an. Ich will Euch den Spaß nicht nehmen, wenn Ihr glaubt, das sei so wichtig, und auch mir ist klar, dass der Fortschritt unaufhaltsam ist, vor allem wenn er so überzeugte Missionare hat. Dank Eurer Aufregung wird man sicher in ein paar Jahren auch auf der österreichischen Fahne sitzen dürfen, wenn man unbedingt so ein Bedürfnis hat.
    Aber vergesst nicht: Man findet immer wieder irgendwo auf der Welt etwas Übriggebliebenes, das korrekt an die heutige Zeit anzupassen ist, etwa eine Fahne in Burundi, auf der man noch nicht sitzen darf, ein Dorf in Montenegro, wo man noch nicht FKK machen darf, oder ein Musikfestival in Deutschland, wo nichts gespielt werden darf als Neue Musik. Alles Horrorvorstellungen. Der Freiheitskampf geht also weiter! Jesus, Luther und Schramm haben’s vorgemacht. So ist doch immer was los.
    Also, setzt Eure argumentativen Bemühungen lieber dort ein, wo es was nützt, und nicht bei mir. Das ist vergeudete Energie, denn in diesem Fall interessieren mich blöderweise die babylonischen Rituale mehr als die Menschenrechte der Mützenträger und Fahnenfurzer.
    Mit diesem Bild möchte ich mich deshalb verabschieden:
    http://www.facebook.com/photo.php?fbid=418345054889966&set=a.374505805940558.82910.100001434267244&type=3&theater

  28. Max Nyffeler sagt:

    „Scheiße, Scheiße, Gottesscheiße“. Na Ihr Freiheitskämpfer, ich fürchte Ihr seid auf den falschen Dampfer aufgesprungen: „Die meisten oppositionell gesinnten und gut informierten Russen, und davon gibt es in Moskau Hunderttausende, wollten offenbar nicht für ‚Pussy Riot‘ auf die Straße gehen. Aus ihrer Sicht sind ‚Pussy Riot‘ keine Dissidenten, ihren Aktionen fehlte es an Relevanz.“ Das Video mit dem Tänzchen in der Kirche wurde auch gar nicht in der Basilius-Kathedrale aufgenommen ,sondern woanders vorproduziert. Alles ein auf Sensation getrimmter Beschiss von A bis Z, und die ganzen Westmedien haben die Verblödung mitgemacht.
    Hier gibt’s einige Informationen über die lächerliche Pussy-Truppe, vielleicht gehen Euch jetzt langsam die Augen auf:
    http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/pussy-riot-lady-suppenhuhn-11867761.html

  29. Max Nyffeler sagt:

    Noch ein Zitat über die „dummen Hühner“, für die, die den Artikel nicht lesen wollen:
    «Dem „Spiegel“ erzählte Wersilow, die drei jungen Frauen seien „Vorbilder für Millionen von Russen“. Die Behauptung ist bodenlos: Selbst russische Oppositionelle wie Boris Akunin und Alexej Nawalny haben die Aktion in der Kirche kritisiert und lediglich gegen die zu harte Reaktion des Staates protestiert. „Wir stehen vor einer unbestreitbaren Tatsache: Dumme Hühner, die einen Akt geringfügigen Rowdytums begangen haben, um Publicity zu bekommen“, schrieb Nawalny.»

  30. wechselstrom sagt:

    Enttäuschend, dass Sie der FAZ auf den Leim gehen.
    Es gibt immer jemanden, der irgendwo dagegen ist, und der dann als „Zeuge“ und „Beweis“ für das, was angeblich alle anderen denken herbeigezerrt wird – und die üblichen Verdächtigungen sind auch alle im Artikel von Moritz Gathmann versammelt:
    Pornografie als Kunst / Kunst, nur um der Provokation willen/ Aktionismus ohne Ziel / Vulgäre Aktionen / Arroganter, rechthaberischer Duktus / blablabla
    Und dann kommt auch noch der Vorwurf des Kindesmißbrauchs –

    Ich schicke Ihnen bei Gelegenheit meine Mappe der gesammelten Presseausschnitte zu meinen eigenen Aktionen – da stehen haargenau die gleichen Vorwürfe drin – incl. Kinderschändung …

    Sehr informativ war der Anfang des Artikels, der Bericht über die bisherigen Aktionen von P.R. – wenn das alles so stimmt, dann sind das wirklich hervorragende Künstlerinnen! Ich bin begeistert.

    Leute, wie Moritz Gathmann werden das, was P.R. antreibt nie in in Ihrem Leben verstehen, auch nicht, wenn man es ihnen zu erklären versucht.
    P.R. verkörpern auf eine erfrischend jugendliche (vielleicht auch naive) Weise das, was bereits die großen Künstler des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet hat, und sie tragen es in Ihrem Land in das 21. Jahrhundert.
    Wo sind die Künstler, der das in Deutschland/Frankreich/England schaffen?

    Sie üben sich derzeit in großem Schweigen

  31. Alexander Strauch sagt:

    Lasst uns mal die „Kirche im Dorf lassen“. Meine Meinung zum Wert der Aktion von P.R., meine grössere Wertschätzung des Punktrios ohne Masken, die fast schon Leonardo-artigen lächelnden Minen im Gericht, das Mittel der Störung des Gottesdienstes im Kölner Dom als das bessere denn eine Zimmermannsche Soldatenwidmung in Salzburg an Pussy Riot, habe ich schon zum Ausdruck gebracht. Ob mir nun deren Punk oder Zimmermann oder Kölner Störungen gefallen, ist letztlich unwichtig. Auch die „Kunstaktion“ von Pussy Riot selbst, ihre Beweggründe, die künstlerische Motivation, die an freie Liebe der Hippies denken lässt, ist auch egal – so sehr das selbst Krusten in Russland aufbrechen möge wie es hierzulande vor 40-45 Jahre geschah. Vielleicht hat sogar die Störung des katholischen Gottesdienstes in Köln den höheren künstlerischen, ja moralischen Wert als der Tanz Pussy Riots vor der Ikonostase, sind die Kölner Störer ja direkt für den Menschenrechtsaspekt derweil Pussy Riot was von Liebe erzählt, was wohl schöner sein mag, aber nicht mehr bringen mag.

    Die Kölner haben allerdings ganz undramatisch nur mit Geldstrafen zu rechnen, relativ klar umrissene Tatbestände wie „Hausfriedensbruch“, „Störung des religiösen Friedens“, etc. begangen. Das wird relativ sachlich hierzulande abgehandelt werden und Rechtsfriede wird herrschen. Verrückter ist nun das Vorgehen der russischen Ermittlungsbehörden und Justiz: „Rowdytum“, „Hooliganismus“. Den ersten Begriff gibt es auch bei uns, wohl nur in Bezug auf den Strassenverkehr, nicht einmal im Ordnungsrecht, das sich ja immer an den sittlichen Vorstellungen orientiert, hantiert damit ernstzunehmen.

    Im StGB der DDR gab es wohl einen ähnlichen Paragrafen wie im heutigen russischen Strafrecht, der mit dem unbestimmten Rechtsbegriff des Rowdytums agierte. Er diente wohl zur Unterdrückung jeglichen anti-sozialen Verhaltens unter der Brille des realen Sozialismus. Heute spielt er vom Sozialismus immer noch eine Rolle im russischen Gesetz, um jeden, jede und alles mundtot zu machen, was ungewöhnlich politisch, künstlerisch agiert. Jeder von uns hat natürlich seine Vorstellung vom Rowdy. Genauso hat diese der russische Gläubige oder einfach mit den Traditionen verbundene, nicht unbedingt durch und durch Regimetreue. Klar definiert ist dieser Begriff aber nicht. So ist es kein Wunder, dass gerade dieser Umstand in Kombination mit der merkwürdigen Punkkunst zu so ambivalenten Ausfüllungen der Tat, der Verfolgung und des künstlerischen Wertes führt. Also losgelöst von allen Fragen einer zu westlichen Brille, einer zu traditionalistischen russischen offiziellen Sichtweise, der Frage, ob dies Kunst oder Nicht-Kunst sei (was sie dann erst Recht zu Kunst machen würde) ist es diese Unbestimmtheit der Begrifflichkeiten, die selbst noch zur Eskalation hier wie in sozialen Medien taugt.

    Unbenommen davon und vielleicht noch auf einer weiteren Metaebene, auf die nördliche Hemisphäre bezogen, scheint die Kommunikation über jetzt nur mal schwammig Religiöses benannte Themen hitziger denn je zu sein. Einerseits Aufregungen, die Sufis von Salafisten nicht zu unterscheiden wissen, Amokläufe gegen Sikhs, die jene ganz blind mit Islamisten verwechseln. Andererseits weniger hitzig, aber verhärtet, die zu beobachtenden Gleichsetzungen von beschneidenden Religiösen mit sexuell unterentwickelten kirchlichen Amtsträgern, wo aus einem jüdischen Mohalim ein irisch-katholischer Schulpfarrer wird. Weiters das Aufeinanderkrachen von Forderern der gleichgeschlechtlichen totalen Gleichberechtigung auch durchaus im Religiösen mit den ewigen Verdammungen inquisitorischer Bischöfe der katholischen Kirche gerade jener Menschen für jeden Tsunami. Die Fronten scheinen allmählich weniger der Religionen und Konfessionen untereinander zu verlaufen als zwischen aus rein pragmatischen und religiös desinteressierten Gründen der Kirche fernbleibenden oder Kritisierenden und den Religionsgemeinschaften per se als Gegner zu verlaufen.

    Andererseits kann man sich auch nur wieder ärgern, wie dumm und einfach die Menschen ausgerechnet diesen krass konfrontativen Menschenfischern hinterherwackeln, sei es dem aktuellen russisch-orthodoxen „Tabakmetropoliten“, um ganz stupide wikipedia zu zitieren, oder irgendeinem weltkulturerbekillenden Scheich, um die jetzt ganz dumm in einen Topf zu werfen (schwache Ironie!). Weiters nerven allerdings überhaupt all diese Unvereinbarkeiten! Ein anderes Feld: Denken wir an Neue Musik in der Kirche und Liturgie. Egal ob nun die meta-distanzierte Musik oder die erfüllende, eigentlich orientiert sich da die Komponistenzunft nicht an landessprachlichen Messen im Sinne des II. Vatikanums, sondern zumeist in Bruchstücken oder zur Gänze an der sog. „tridentinischen Messe“! Diese feiern natürlich v.a. die besonders Wertkonservativen der katholischen Kirche und finden ja manchmal schon Palestrina dafür ungeeignet, lassen nur den puren gregorianischen Choral zu. Wie verrückt nun, wenn man gerade das Unvereinbare zusammenbrächte… Absolut Neue Musik für die musikalischen Messteile, abgefeiert in einer durch und durch lateinischen Messe. Um nun wieder zu Pussy Riot und der Qualität ihrer Performanz im Zeichen der Liebe zu reden, die ihnen nicht abzusprechen ist, treffen die sich mit der wunderbaren Performanz z.B. der lateinischen Messe wieder, wie sich im Ergebnis ja auch Serialismus und Aleatorik immer wieder wie aus dem Ei gepellt gleichen…

  32. wechselstrom sagt:

    Ich setz mal den Songtext hier herein damit ihn auch Max Nyffeler kennenlernt :-) – lateinische Übersetzung steht noch aus ;-))

    Mutter Gottes, Jungfrau, vertreibe Putin
    Vertreibe Putin, vertreibe Putin.

    Schwarzes Ornat, goldene Schulterklappen
    Alle Bittsteller kriechen zur Verbeugung
    Das Gespenst der Freiheit im Himmel
    Gay-Pride ist in Ketten nach Sibirien geschickt worden

    Der Chef des KGB ist ihr oberster Heiliger
    Führt die Protestierer bewacht in Haft
    Um den Heiligsten nicht zu betrüben
    Müssen Frauen gebären und lieben

    Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck
    Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck

    Mutter Gottes, Jungfrau, werde Feministin
    Werde Feministin, werde Feministin

    Kirchliches Lob für die verfaulten Führer
    Prozession aus schwarzen Limousinen
    In die Schule kommt der Pfarrer
    Geh zum Unterricht – bring ihm Geld!

    Der Patriarch Gundjaj glaubt an Putin
    Besser würde der Hund an Gott glauben
    Der Gürtel der Jungfrau ersetzt keine Demonstrationen
    Die Jungfrau Maria ist bei den Protesten mit uns!

    Mutter Gottes, Jungfrau, vertreibe Putin
    Vertreibe Putin, vertreibe Putin.

  33. Alexander Strauch sagt:

    schon wieder danke, wechselstrom ;-))

    und wie ich sehe, ginge die tridentinische Neue-Musik-Vertonung hier auch ohne Mark Andre, Arno Pärt (äh, Arvo) oder Rihm-Messe-Passion-Requiem. Ja noch besser, aufgrund der doch etwas unliturgischen, „kritischen“ Haltung des Textes ginge doch auch ein echter Henze-Knabenchor. Oder doch echte Nonnen, dazu isst jemand Chips, natürlich ungesäuerte. Es gingen auch Kröpöks, ein wenig Bhuddhismus, ach ja, Putinismus… Halleluja, sage ich!!

  34. wrdlbrmpft sagt:

    Doch, Äusserungen namhafter Künstlerinnen werden in weitverbreiteten Print-Medien durchaus wahrgenommen.

    http://www.krone.at/Stars-Society/Anna_Netrebko_Ich_lerne_Deutsch._versprochen!-Krone-Interview-Story-330684