von kosmischen Kakerlaken und Frauen die es nicht gibt

Die SZ (Egbert Tholl) ruft

Bei der diesjährigen Münchener Musiktheaterbiennale fällt beim Programm eine große Zuwendung zur so genannten Münchener „freien Szene“ auf – sicherlich gab es noch nie so viele begleitende Projekte, und mit den „Nuclei“ sogar Opernuraufführungen im Achterpack und als hors d’ouevre zum Hauptoperngang.
Letztes Wochenende hatten zwei dieser Projekte ihre Uraufführung:

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„AndersArtig“ ist ein Projekt von „Musik zum Anfassen“, der etwas heikel betitelten Gruppe von Münchener Neue-Musik-Szene-Musikern, die schon seit 15 Jahren viele schöne Jugend-und Kinderprojekte in München realisieren. Mit meinem Sohn Milo (4) besuchte ich die Aufführung in der Spielstätte der Münchener Kammerspiele, „ausgedacht, komponiert und auf die Bühne gebracht von den Schülern der Klassen 5b und 7b der Hauptschule Walliserstraße München und 5a und 6d des Heinrich-Heine-Gymnasiums“.

Der Saal ist zur Hälfte mit verkleideten Kindern an langen Tischen (in tollen Kostümen und Bühnenbild von Robert Kis), zur anderen Hälfte mit Publikum gefüllt. Wir befinden uns auf einem fremden Planeten auf dem Dämonen sich von den Flüchen und Beschimpfungen der Oberflächenbewohner ernähren (die Geschichte wurde von den Schulklassen selber erdacht und von Julia Schölzel und Martina Stütz in Form gebracht). Drum herum im Karree die Musiker von „Musik zum Anfassen“.

Sofort bricht ein Höllenlärm los, eine wahre Fluchsymphonie, die sich auf sympathische Weise von den oft etwas betulichen und braven Kindermusikprojekten abhebt und eher an Summerhill und antiautiotäre Erziehung erinnert. Immer wieder stehen Kinder auf und beschimpfen sich, zwischendrin wird im Maschinentakt auf alles eingedroschen, was zur Verfügung steht: Rohre, Metallteile und vielleicht bei den Proben auch auf die Köpfe der Tischnachbarn. Die Musiker von „Musik zum Anfassen“ feuern die Blagen an, mittels peitschender Drumsetrhythmen oder auch mit Hilfe von durch hochgehobene Schilder organisierten Improvisationsanweisungen.

Man bekommt schnell Respekt vor der Löwenbändigungsleistung der Mitwirkenden und des Regisseurs Berkan Karpat. Irgendwann landen grüne Außeraußerirdische (anders kann man Aliens, die auf einem außerirdischen Planeten landen, nicht bezeichnen) und sind von dem Umgangston des Schimpfwortplaneten erst einmal entsetzt, woraus sich aber kein weiteres wirkliches Handlungselement entwickelt. Die Außeraußerirdischen singen aus irgendeinem Grund wie in einem DSDS-Casting (sprich mit dem weinerlichen Vibrato, den viele Teenies heutzutage mit Gesang verwechseln), aber das ist irgendwie auch ganz lustig. Irgendwann singt auch das Raumschiff der Außeraußerirdischen selber (schön). Zwischendrin stehen immer wieder einige Jugendliche auf und nuscheln etwas in Metallrohre – anscheinend wichtige Dialoge der Dämonen und der Schimpfplanetenbewohner, die aber leider unverständlich bleiben, entweder der Akustik oder der Verstärkung oder auch der jugendlich schnoddrig-schüchternen Sprechweise geschuldet, man weiß es nicht so genau.

Aber eigentlich ist es auch egal – das Spektakel ist durchaus beeindruckend und erschlägt einen mit Energie. Schön auch, dass die Kinder das selber komponiert haben, obwohl manche Passagen sanfte Anleitung der Neue-Musik-Erprobten Profimusiker vermuten lassen. Auf jeden Fall mal etwas anderes.

Ich frage meinen Sohn, wie ihm das gefallen hat: „Ich fand es langweilig, Papa“ sagt er, ein vernichtendes Urteil, leider. Ich glaube er war enttäuscht, dass die Schimpfworte nicht das Niveau seines Kindergartens erreicht haben, denn dort könnte man mit schwachen Geschützen wie „Hosenscheißer“ oder „kosmische Kakerlake“ nicht unbedingt punkten. Eine Form jugendlicher Selbstzensur?

Die Antwort kennen nur die Außeraußeraußerirdischen.

„Neda – der Ruf, die Stimme“ heißt ambitioniert das neue Musiktheaterwerk von meinem Mitblogger Alexander Strauch, und da er selber schwerlich darüber schreiben kann, tue ich es. Zuerst gibt es den „Ruf“: Im icamp in der Entenbachstraße wird das Publikum erst einmal wieder auf die Straße gescheucht (was die Anwohner des Theaters wie so oft sehr erstaunt, denn das icamp befindet sich in einer Straße, in der man kein Theater vermuten würde, obwohl sehr zentral gelegen), denn man betritt das Theater diesmal durch den … Hintereingang. Im Bühnenraum angekommen vermisst man sofort Stühle – stattdessen ein Plastikkubus in der Mitte (Raumbild: Martina Segna), Bilder von Theaterbesuchern werden eingespielt, die kurz vorher im Foyer aufgenommen wurden. Musiker sind keine zu sehen, die sind ebenfalls hinter Plastik verhüllt, sodass man auch Alexander Strauchs Dirigat nur erahnen, aber tatsächlich nicht sehen kann.

Und nun die „Stimme“: Irgendwann beginnen zwei bis dahin unsichtbare Sängerinnen in dem Kubus zu singen – sie erzählen die Geschichte zweier junger Frauen aus dem Iran: Die eine wurde während der „grünen“ Revolution erschossen, die andere auf Facebook mit ihr verwechselt und fortan unfreiwillig zur Ikone des Widerstands (sie musste das Land später verlassen). Eine Paraphrase über die Wirkung neuer Medien auf unsee Lebensrealität also. Das wollten uns die Bilder von SZ-Kritikern und Theaterakademieprofessoren vorher zeigen, die wir eingespielt bekamen, sapperlot! Bald sind auch Aufnahmen aus dem Internet zu sehen, Bilder der erschossenen Demonstrantin, Nachrichtensendung, Facebook.

Die Musik von Alexander Strauch entwickelt eine große Schönheit und Farbigkeit mit reduziertesten Mitteln, wunderschön gesungen von Julia von Landberg und Alexandra Steiner, die sich irgendwann auch mal unters Pulikum mischen und ohne sichtbare Hilfe eines Dirigentenmonitors erstaunlich gut mit dem Ensemble (Mathis Mayr, Cello, Martin Mallaun, Zither) zusammenfinden. Die Vokallinien sind nicht unheikel, da oft bewusst banale Texte verwendet werden (im Gedächtnis bleibt ein unfreiwillig komisches Duett auf die Worte „copy und paste“), Strauch vermeidet aber die üblichen hohlen Neue-Musik-Melismen sondern findet tatsächlich zu einer überzeugenden (durchgängig durchhörbar mikrotonalen) Schönheit, bei der es sogar gelingt, persische Anklänge einzubauen, ohne auf eine eigenständige musikalische Sprache zu verzichten. Tatsächlich ist der Klangreichtum der zum Beispiel mit einem hochverzerrten Cello und einer elektronisch verfremdetem Zither erreicht wird, beachtlich.

Einzige mögliche Kritik an dieser also sehr sympathischen Produktion (Regie: Martina Veh) ist vielleicht die Wahl der Konzertsituation. Manches hätte man lieber im Sitzen als im Stehen gehört, das Installationsambiente soll zwar das Publikum einbeziehen, schafft aber eher Abstand, da es dann doch die Zuschauer zu sehr sich selbst überlässt. Die im Grunde hochinteressante und aktuelle Geschichte könnte näher gehen, vielleicht war sich die Ästhetik hier ein wenig im Weg?

Nicht aus dem Weg gehen wir uns nach der Aufführung, denn im icamp kennt man sich und hat schon so manche Szeneproduktion gemeinsam über die Bühne gebracht, nun auch diese.

So schön kann München sein, im Biennalefrühling.

Moritz Eggert

...die Stimme des Volkes antwortet

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4 Antworten

  1. Alexander Strauch sagt:

    Hey Moritz! Guter Artikel, gute Bilder ;-) Eigentlich wollte ich seriös nix hier reinkommentieren, unternehme es nun trotzdem. Schliesslich könnte man ja einen ganzen Strauss an Ästhetik hier in den Ring der Fragen werfen. Die unbewegliche Situation um Raum betreffend wurde die Premiere ein wenig Opfer des Andrangs. Ca. 90 Leute kurvten durch den Raum, oder standen darin. Da traut man sich weniger zu bewegen, als wenn nur 60-70 Menschen anwesend wären, worauf der Raum ausgelegt war. Prahlerisch darf ich sagen, dass wir ihn für alle Tage auf 80 freigeben mussten! Und das Team brauchte während der Folgeaufführungen weniger Zeit, was auch bei wenigen Minuten viel ausmachen kann und das Stehen verkürzt. Ein wenig bildeten wir damit die Situation im Juni 2009 in Teheran ab: Viele Menschen stehen am Rand und Schauen erstmal ewig zu, bevor sie mitmachten oder angegriffen wurden. Davon abgesehen wäre es dennoch trotz der gefühlten Enge möglich gewesen, sich zu bewegen. Es ist schon spannend, wie ästhetische Freiheit und Wahrnehmung im Theater definiert werden: Man muss den Leuten immer ein wenig sagen, was sie tun sollen, wie eben sich frei bewegen…

  2. strieder sagt:

    Ich vermisse was, da fehlt doch was? Die Wertung des Sohnes auch zu „Neda – der Ruf, die Stimme“ …

  3. @strieder: Alexanders Stück war „ab 18“ (Bilder von toten Demonstrantinnen wollte ich jetzt meinem Sohn nicht zumuten…).

  4. strieder sagt:

    @Moritz Eggert: Ooookay, würde ich auch nicht ;)