Wer war Christophe Bertrand (*1981 – †2010) ?

Anknüpfen! Eins aus dem Anderen heraus, typisch Neue Musik eben. So oder so ähnlich hat man es mit Löffeln in Hochschultagen gefressen. Geht Anknüpfen auch Sprachlich? Kann ich das? Ohne Verheddern? Im ersten Affekt spüre ich eher die Lust zum Aufknüpfen. Zu morbide… Kein Einstieg…

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Jetzt habe ich aber doch was zum Faden aufnehmen gefunden, jetzt auf der anderen Seite des Badblogs, wie durch den Spiegel in Cocteaus Film Orphée in eine andere Welt gekommen. Auf der alten, der Leserseite stellte Moritz Eggert den jungen deutsch-serbischen Kollegen Marko Nikodijevic vor. Neulich beim Durchsehen seines Werkverzeichnisses stieß ich auf eine Widmung zu seinem Stück „gesualdo abschrift/antiphon super o vos omnes“: Christophe Bertrand in memoriam.

Den Namen Christophe Bertrand hatte ich irgendwo schon mal gelesen. Just mal wieder in die Suchmaschine damit – und Schock! Christophe Bertrand war ein junger Kollege, der dieses Jahr gerade erst einmal dreissig Jahre alt geworden wäre. 1981 geboren im elsässischen Wissembourg, unweit der Deutschen Weinstrasse in der Pfalz, gestorben im September 2010 in Strasbourg. Dort hatte er die letzten Jahre Klavier und Komposition (bei Ivan Fedele) studiert, ein kleines Ensemble für Neue Musik gegründet, das Ensemble In Extremis. Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends erhielt er, wie es sich für einen französischen Komponisten gehört, seine Feuertaufe am Ircam. Schnell sprang die Tour de force an und führte ihn auf wichtige französische Festivals, in Deutschland auf das Beethovenfest in Bonn, Ultraschall in Berlin, auf die Darmstädter Ferienkurse, in Holland zu Gaudeamus, in der Schweiz zum Lucerne Festival. Pierre Boulez, Jonathan Nott und andere haben ihn dirigiert. Dennoch habe ich bisher nichts von ihm gehört, ausser den Namen gelesen zu haben, nichts über ihn gewusst.

Ob ich’s nun will oder nicht, ich musste sofort an Mozart oder Schubert, natürlich auch Claude Vivier denken. Nicht was deren Bedeutung betrifft. Nein, morbide wie man als Komponist in biografischen Dingen eben so ist, ließ ein französischer Nachruf meine Fantasie durchbrennen:“Le jeune compositeur français disparait à seulement 29 ans“. Natürlich verstand ich auf den ersten laienhaften schulfranzösischen Blick unter disparait falsch verschwunden! Ein junger Komponist löst sich einfach in Luft auf verschwindet. Wollte man als junger Mann, will man als sich jung fühlender nicht immer mal wieder einfach sich in Luft auflösen, aus allen Lebensbanden entweichen? So hat es Christophe Bertrand aber herausgerissen. Neugierig wie ich bin, wollte ich unbedingt wissen, warum der junge Mann gestorben war. Darüber kann ich nichts in Erfahrung bringen, genau betrachte ist es eigentlich auch unwesentlich, wenn nicht gar ungehörig. Aber ich wollte doch mehr darüber wissen. So stieß ich auf dieses Forum, wo sich einige Menschen über den Trauerfall austauschten. Ein Gilles Pouessel berichtete von der Trauerfeier und bedauerte, dass ausser ihm und dem Komponisten Philippe Hurel kein ihm weiterer bekannter Mensch aus dem Pariser Dunstkreis der Musikszene, wohl auch Komponistenkollegen, in der er und Bertrand wohl verkehrten, anwesend gewesen wäre. Ich muß natürlich sofort wieder ketzerisch mich selbst fragen, ob einem bei der eigenen Beerdigung die Präsenz von Kollegen wichtig wäre? Man würde sich angesichts dieser Assoziationen natürlich schon freuen.

Wie klingt aber nun Christophe Bertrands Musik? Man findet auf der weiterhin gepflegten Homepage einige Stückauszüge, auf der brachliegenden Seite des Ensemble In Extremis sogar Längeres. Auf Youtube stieß ich auf Satka (2008) für sechs Instrumente Flöte, Klarinette, Marimba (alternierend mit Vibraphone), Klavier, Violine und Violoncello. Der Titel erinnert mich an ein eigenes Stück, das einfach die Besetzungszahl als Namen hat. Satka heisst in Sanskrit nichts anderes als sechs bzw. bezeichnet es einen Haufen der Zahl sechs. Folgt man der Werkbeschreibung, arbeitet sich das Stück an Fibonacci-Zahlen ab. Mir liegt keine Partitur vor, also eine kleine Höranalyse! Es beginnt mit einer Achttonlinie von f1 zu fis2 aufsteigend. Schnell setzt Instrument für Instrument ein. Die Linearität wird durch immer dichtere kanonische Einsätze zu einer Art Schwarm verdichtet. Ab ca. 0:30 wird der Tonraum nach unten wie oben erweitert, bis Oberstimmen und Unterstimmen bei ca. 0:55 kurz in ihren Registern hängen bleiben. Bei 1:00 werden die Räume wieder in der Mitte vereint. Die Linie des Beginns wird dichter vom b2 abwärts geführt, das Schwarmhafte zu Einheitslinien gebündelt, im a1 endend. Ab 1:25 bilden sich vom c3 ausgehend kleine in 2-, 3- oder 5-Tongruppen abwärts „hüpfende“, „verschmutzte“ Blöcke. Bei 2:13 gibt es plötzlich eine genauso clusterartig „verschmutzte“ kurze Terzenschaukel zwischen a1 und c2. Es folgt eine Art „Durchführung“, die das Linienmaterial nochmals verdichtet, um es bis ca. 3:10 auszudünnen. Ab hier sind einzelne Punkte und Linienfetzen zu hören, die aber sofort wieder bis ca. 3:30 in enger Lage, leise zu einem kleinen Schwarmstrang auf gis1/a1gebündelt werden. 3:39 greift die Idee der Terzenschaukel auf: statt als Cluster, hier aufgelöst in eine Art abwärts fallende G7-Tropfen, ausgehend vom g2. Das wird wieder verdichtet, um ab 4:10 wieder eine „Hüpftreppe“ zu bilden. Die Linien springen so den Tonraum ausweitend wieder in ein hohes und tiefes Register, die schlagartig bei 5:04 ins c2 zusammenfallen. Anschliessend wieder abwärtshüpfende Tongruppen wie bei 1:25. Dies wird durchgehalten bis ca. 5:50. Vom a1-Cluster ausgehend bildet sich bis 6:03 ein messiaenhaftes Melos, das von diesem Raum augehend durch alle Register springt. Bis 6:30 gemeinsames Clustertreppe-Hinaufjagen. Von 6:30 bis 7:20 leise beginnendes Linien-zu-Schwarm-Material, mit Ausweitungen im Klavier zuerst in den Bass, dann den Sopran. Nach kurzem Stimmungsumschlag bis 7:50 im Mittellagen-Sopran absteigende, in bester Basslage aufsteigende Linien, die wie in 5:04 wieder zusammenstoßen, um eine weitere Variante des Terzencluster-Schaukelmelos zu vollführen. Ab 8:10 immer weiterausholende Zickzacklinien, jetzt ganz Schwarm-verfallen. Von 8:45 bis 9:15 zarte, sich steigerndes Treppenhinaufhüpfen. Es scheint nun so eine Art finale Umkehrung zu starten. Hohes Tongeflirre wird zu absteigenden Linien abgebaut, in Umkehrung des Beginns von fis2 hinab zu f1, bis zum Ende ausgedünnt.

Erfrischend an jenem doch sehr „französischen“ Stück ist, dass ein junger Komponist endlich mal ohne Bezug auf die Spektralisten Murail und Griséy auskommt. Wie diese geht er wohl von Ligetis Linienkomposition aus. Er baut aber keine mikropolyphonen Netze, sondern sucht nach einer Leichtigkeit, die eher in Begriffen wie „Plasma“ und „Schwarm“ zu denken scheint. So konzise er sein Material aufbaut und durchführt, so sorgsam geht er mit seinem Tonhöhennetz um, kann kleine Brüche und Überraschungen einbauen, die dieses kleine Uhrwerk lebendig halten. Vielleicht läßt sich diese Musik am einfachsten mit der von Miroslav Srnka vergleichen. Dieser baut ähnliche Uhrwerke, geht meist von spektralen Mikrotonleitern, bleibt sich aber „treuer“ als Bertrand, riskiert dadurch allerdings manchmal eine Ermüdung des Materials, der Bertrand mit seinen Hüpfleitern davonjumpt. Dieses mühelose Stringenz ist das wahre Erstaunen, was er bei mir auslöst, lässt den Verlust leise erahnen. Wie wäre es nun, wenn ein so junger Komponist ähnlich den berühmt-berüchtigten frühverstorbenen Klassikern ein ähnliches den Kanon umfassendes Werk hinterlassen könnte wie vor 200 Jahren? So gross die Kammerbesetzungen und wenigen Orchestergelegenheiten für Bertrand waren, so wenig waren sie doch im Vergleich zur grauen Vorzeit. Seine Vita liest sich somit nicht anders, als viele Viten, nur dass sie in zehn Jahren schon das durchhechelte, wozu andere heute zwanzig Jahre brauchen. Sieht man aber, wie wenig dies dann wieder im Vergleich der Jahrhunderte ist, fragt man sich, obder Betrieb der Neuen Musik in seiner zunehmenden Vorsicht und Auftragsscheu nicht immer mehr zum Kunstverhinderer wird. Was wäre doch noch mehr von Christophe Bertrand zu hören, wäre die Risikolust, ja die wirkliche Freude an einer Hülle und Fülle von Musik vorhanden. So wiederholen sich aber nur die Fehler, die man sich viel zu oft seit Schubert & Co. leistete. Das macht den Verlust all der zu früh Gegangenen noch herber.

Quelle: Homepage Christoph Bertrands weitergeführte Homepage zur freien Verwendung

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5 Antworten

  1. Betrands „Satka“@YouTube: tumultuös, lebendig, subtil, quirlig, skrupulös, virtuos, improvisatorisch, dicht. Das Foto steht in der James-Dean-Tradition und lädt zur Identifikation ein (nicht kritisch gemeint). Ein bisschen Grisey höre ich doch (auch nicht kritisch gemeint). Faszinierende Passagen, aber nach 10 Minuten 35 ist’s dann für meinen Geschmack auch genug. Dennoch: Klasse Stück!

    Danke für den Hinweis auf diesen Mann :-)

  2. strieder sagt:

    Ich kannte ihn zwar nicht persönlich, aber Aufnahmen einiger seiner Werke, beispielsweise das 2010 in Köln als deutsche Erstaufführung gespielte „Scales“ (ich war nicht dabei, aber ein Freund), sowie sein 1. Streichquartett, das Klaviertrio „Treis“ oder „Aus“ für Ensemble. Neben Ligeti würde ich als starken Einfluss vor allem Luciano Berio (den Berio von Stücken wie „Formazoni“) nennen. Sowohl in satztechnischen Details wie auch in der Instrumentation. Wenn bei „Scales“ sich aber die Holzbläser hochschrauben in einen engen Cluster, erwartet man fast die tiefe Kontrabässe Ligetis statt einen tiefen Trommelwirbel als Antwort. In anderen Werken hört man kaputte Mechanismen bzw. Uhrwerke ablaufen, die ebenfalls an Ligeti erinnern. Wenn man daran denkt, in welche immer neuen Richtungen Ligetis Schaffen sich bewegte, ist es besonders traurig, das die Entwicklung Betrands so jäh abgeschnitten ist. Sein Tod machte mich betroffen, allerdings – zugegeben – auch, weil sein Geburtsjahr dem meinem nur um ein Jahr fern ist. Nur um eine Ziffer verschieden, fast gleich aussehend. Und nun ist er schon fort. Er hat sich selbst fortgenommen, er starb an Suizid.

  3. Guntram Erbe sagt:

    @Stefan Hetzel

    aber nach 10 Minuten 35 ist’s dann für meinen Geschmack auch genug

    Sind wir doch mal ehrlich: wäre dieses exquisite Stück Musik von uns, würden wir es uns doch sicher noch und noch anhören und kriegten kaum genug davon, oder?

    Beste Grüße
    Guntram Erbe

  4. @Guntram Erbe: Ertappt! Ohne Narzissmus keine Kreativität??

  5. Franz Kaern sagt:

    Vielen Dank für den Artikel über diesen jungen Komponisten und den Link zu Satka. Ich glaube nicht, dass meine Faszination, die ich beim Hören dieser Musik verspüre, mit dem Wissen zusammenhängt, dass sie von einem jung verstorbenen Komponisten stammt. Tatsache ist, dass dieses Stück bei höchster Materialökonomie unglaublich plastisch, facettenreich und suggestiv ist. Mich spricht am meisten eine Musik an, die bei integerstem handwerklichen Können gleichzeitig den größten poetischen, semantischen, sinnlichen Mehrwert aufweist. Ich kann sagen: Christophe Bertrand gelingt dieser Spagat in diesem Stück umwerfend, so dass ich sehr neugierig darauf bin, mehr von ihm kennenzulernen. Ja, ich werde beim Hören dieses Stückes neidisch darauf, dass mir das nicht eingefallen ist und wohl nie einfallen wird.
    Man hört so vieles, was handwerklich durchaus gut gemacht ist aber jeglicher Persönlichkeit entbehrt. Es ist immer wieder beglückend, wenn dann doch gelegentlich jemand herausragt, bei dem man das Gefühl hat, dass er mit dem, was er handwerklich kann, auch wirklich etwas zu sagen hat. Dieses Gefühl habe ich nach dem Hören von Satka und bin gerade tatsächlich glücklich, diese unverhoffte Begegnung mit dieser Musik gehabt zu haben.