Töne, Notdürftigkeiten und der störende Sinn

Ab und an mal durchlüften. Das täte gut. Hoffnung dazu hat an diesem Wochenende das Festival euro-scene in Leipzig geweckt. Es stand unter dem Titel „Tonstörung“. Ein Blick in die schon 21-jährige Festivalgeschichte ist beeindruckend. Heute berühmte Choreograpen und Regisseure wie Platel, Castellucci, Warlikowski u.a. waren hier bereits früh zu Gast und die grenzüberschreitende Ausrichtung wirkte attraktiv. Wer weiß, ob es hier nicht den nächsten Kick aus Osteuropa zu entdecken gibt. (Ich meine jetzt nicht die Killerdroge Krokodil.) Eine Einladung des Instituts für Theaterwissenschaften – durch Prof. Dr. Guenther Heeg –, an einer Podiumsdiskussion über den „Eigensinn des Akustischen“ teilzunehmen, machte eine Reise ins schöne Leipzig geradezu unwiderstehlich. Auf dem Podium mit dem Pariser Tanztheaterkritiker Thomas Hahn – wir sind nicht verwandt! – den Theaterwissenschaftlerinnen Viktoria Darian und Petra Maria Meyer waren wir gebeten, einleitende Statements zum Thema Tonstörung abzugeben. Frei nach dem Prinzip: „Die Erwartungshaltung des Veranstalters enttäuschen um ihn zu erfreuen“ – wer hat noch einmal das Stück dieses oder eines ähnlich lautenden Titels geschrieben? – habe ich in etwa Folgendes vorgetragen, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt. Nicht aufgenommen habe ich hier die spannende Weiterführung zu Merlau-Ponty durch Frau Prof. Dr. Meyer („leiblicher Raum der Existenz“), ihren Hinweis auf die Kommunikationstheorie von Immanuel Kant, die Gedanken von Prof. Dr. Heeg zur „Zwangsheirat“ des Akustischen und des Visuellen, die Gedanken zur Stimme als Dienerin des Logos, zur Subjektkonstitution durch die Stimmes, den Hinweis auf die grundsätzliche Bedeutung von Tonstörung als Störung einer – medialen – Beziehung sowie den köstlichen Ausdruck von Thomas Hahn, der beklagt hat, dass die meisten Choreographen die Tonspur lediglich „als Klangteppich“ begreifen, „an dem sie sich die Füße abstreifen“.

Herzlichen Dank für die Einladung. Ich werde mich nun nicht mit einer weiteren Pirouette auf dem geisteswissenschaftlichen Tanzwettbewerb um den nächsten Turn betätigen. Stattdessen verwende ich das Mikrophon als Sprechmuskel und mache mir den Text eines anderen zueigen – von Ulrich Holbein –, indem ich ihm meine Stimme gebe. „Über mir piept der Weckautomat von Maria Batz, sie muss in die Schule, dreimal, viermal, fünfmal, ein Zimmer weiter setzt mittendrin Musik vor dem Alltag ein, Herr und Frau Batz schlafen getrennt, irgendeine Triosonate, Telemann oder so, ziemlich leise, entweder hat Frau Batz einen leichten Schlaf oder sie kann es sich erlauben, nicht gleich wachzuwerden, eins weiter setzt Disco-Sound ein, Mike Batz muss auch in die Schule, eins weiter ein Schnarren, der Wecker von Herrn Batz, ah, eine Art Fuge bahnt sich an, wenigstens ein Kanon, immerhin: nacheinander haben vier Stimmen eingesetzt, das Schnarren des Herrn Batz imitiert in tiefer Lage das Piepen seiner Tochter, der Disco-Sound vergröbert die mütterliche Musik vor dem Alltag, da hat Maria Batz das Piepen schon ausgestellt, es bleibt beim Fugato.
Ich warte unaufgewacht auf eine hörenswerte Durchführung, da folgt ein neuer fugaler Ansatz, mit neuer Motivkonstellation, Wasserspülen, Poltern, Rauschen. Jedes Familienmitglied tritt aus, streng nacheinander, lagenmäßig nicht im mindesten differierend. Zuerst erfolgt eine sehr flüchtige Wasserspülung, Zeitrafferpoltern, ungeduldiges Rauschen, das kann nur eins der Kinder sein, dann folgt dezentes, aber sehr gründliches Rauschen, vorsichtiges, wattiertes, dafür nicht wieder aufhörendes Poltern, schließlich setzt der Haarfön ein, jetzt zwei Zimmer weiter in Durchlauferhitzer, oder so was, dann Rasierapparat und Karreemaschine. Oh, ich bin mit der Zuordnung des jeweiligen Parts durcheinander gekommen – nichts gegen Polyphonie aber heutzutage ist das Durchhören solcher Matineekonzerte viel schwieriger als damals, als die Dauertöne noch nicht geschlechtslos waren.“
Es muss ironisch wirken, wenn ich meine Einlassungen zur „Tonstörung“ mit einem kleinen Lauschangriff auf den alltäglichen Lärm beginne, der uns allen vertraut ist. Doch wer über das Phänomen der Tonstörung zu reflektieren beginnt, kommt schnell an den Punkt, an dem er feststellt, dass der Ton an und für sich schon meist eine Störung darstellt. Gemeint ist nicht allein der Basso continuo des Kühlschranks, die Rezitative des Abflussrohrs und die Da Capo-Arien der Müllabfuhr. Auch die – von uns allen sicherlich vielgeliebte Musik – ist ein allbekanntes Phänomen der Störung für den Stadtbewohner. Deren eminente kulturgeschichtliche Bedeutung man unter anderem daran ermessen mag, dass selbst der Philosoph Immanuel Kant ihr in seiner Kritik der Urteilskraft eine eigene Fußnote gewidmet hat.
Im § 53 heißt es wörtlich: „[Der Musik hängt ein] gewisser Mangel der Urbanität an, dass sie, vornehmlich nach Beschaffenheit der Instrumente, ihren Einfluss weiter, als man ihn verlangt (auf die Nachbarschaft), ausbreitet, uns so gleichsam aufdrängt, mithin der freiheit Andrer, außer der musikalischen Gesellschaft, Abbruch thut; welches die Künste, die zu Augen reden, nicht thun, indem man seine Augen nur wegwenden darf, wenn man ihren Eindruck nicht einlassen will. Es ist hiermit fast so, wie mit der ergötzung durch einen sich weit ausbreitenden Geruch bewandt. Der, welcher sein parfümierts schnupftuch aus der Tasch zieht, tractirt Alle um und neben sich wider ihren Willen, und nöthigt sie, wenn sie athmen wollen, zugleich zu genießen; daher es auch aus der Mode gekommen ist. Der biographische Grund für diese Reflexion ist banal: Der Königsberger Gefängnischor war es, der Immanuel Kant zu diesen Reflexionen über die Urbanität der Musik veranlasste. Doch benennt Kant einige Eigenschaften der „Tonstörung“ die uns in der weiteren Diskussion beschäftigen werden: „sie drängt sich gleichsam auf“, „sie unterscheidet sich in ihrer wirkweise von der bildstörung“ und sie hat offenbar etwas mit dem verhätlnis von innen und außen zu tun: etwas dringt nach aussen und breitet sich aus wie ein Duft.
An dieser Stelle mögen die Medienwissenschaftler unter ihnen innerlich die Nase rümpfen. Wie kann man eine Rede über die Tonstörung beginnen, ohne dabei die kommunikationstheoretischen Arbeiten von Shannon und Weaver zu streifen. Shannon und Weaver, die in ihren Arbeiten die Störung, englisch: noise, als den Todfeind der Informationsvermittlung benannten: Die Reduktion des Noise war das oberste Ziel im Sinne einer erfolgreichen Übermittlung eines Signals. Doch lassen wir kommunikationstheoretische Aspekte an dieser Stelle beiseite – schließlich haben Sie auch in der englischen Übersetzung des Festivaltitels „Tonstörung bewusst (?) den Ausdruck disturbance gesetzt, anstelle von „noise“; akzeptieren wir, dass Kommunikation mit Luhmann gesprochen „unwahrscheinlich“ ist und richten wir unser Augenmerk darauf, dass das Medium die Botschaft ist. Und dieses Medium, von dem wir hier handeln ist die Tonstörung.
Man muss ja gar nicht erst ein Festival besuchen, um dieses Phänomen zu beobachten, auch wenn es hier vielleicht gar besonders schöne gibt. Mit der Urbanisierung setzt auch die Zivilisierung und Funktionalisierung des Lärms ein. Wo dem Bauern allein die Stundenuhr – oder mit Carl von Linné gesprochen – die Blumenuhr als zeitliche Markierung diente, so wuchs dem urbanen Raum mit dem Glockenschlag der Kirche eine andere zeiträumliche Markierung zu, die weit über eine einen Störung hinaus zum strukturierenden Medium wurde. Der heilige Lärm der Kirchenglocke war jedoch noch weit mehr, über den Abglanz des ersten Big Bang hinaus ein strukturierendes Ding: Der Raum der Gemeinde entsprach dem Schallraum, den die große Glocke markierte: Wer die Glocke hört, gehört dazu, so drückte es Richard Murray-Schafer einmal aus.

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Heute vermögen wohl nur noch die wenigsten den Namen der Gemeinde zu benennen, in die ihr Quartier fällt. (Touristische Ausnahmen einmal ausgenommen.) Die akustische Reviermarkierung ist auch längst nicht mehr so immobil wie sie einmal war. Mit hochgerüsteten Abspielgeräten ausgestattet, ist jeder Mobiltelefonbesitzer heute zu einem kleinen pissenden Hund geworden, der in jeder möglichen und unmöglichen Situation seine akustische Notdurft verrichtet. Und mehr noch: längst ist das Audio-Branding zur wirksameren, weil subtileren Waffe geworden im Kampf um die Aufmerksamkeit. Und wer sich in Graz, in Strasbourg oder am Zürcher Flughafen in ein öffentliches Verkehrsmittel steigt, der kapituliert rasch: Hände hoch, bis zu den Ohren, wir sind umjingelt.
Ein besonders schöner Jingle, in seiner Länge und Vielgestaltigkeit beinahe die Karikatur eines Jingles, ist die Erkennungsmelodie der euro-scene, die der Moderator uns daher auch mit Vergnügen wiederholt vorgeführt hat.
Für mich persönlich jedoch hat das Festival nicht mit einer Tonstörung begonnen, sondern mit einer Sitzstörung. Und vielleicht wäre dies auch die treffendere Überschrift gewesen für dieses Festival in dem das alte Thema der Avantgarde, den Zuschauer durch „Deplatzierung“ zu einer anderen Rezeptionshaltung zu erziehen, auf verschiedene Weise durchgespielt worden ist. Man denke an die Performance von EIO – übrigens die in meinem Falle einzig erfolgreiche Tonstörung, nach zwanzig Minuten war ich vom Küchenradiogeplärr und dem Aktivismus der Freizeitperformer so mürbe, dass ich aufgeben musste – bei der die Zuschauer sich förmlich darum rissen, die Arbeitshandschuhe überzustreifen. Was vielleicht auch damit zu tun hat, dass in Vergessenheit geraten ist, dass auch die Rezeption von Kunstwerken Arbeit ist. Man erinnere sich an Hector Berlioz der als Zuschauer der opéra ballet Orphée von Gluck so laut ins Schluchzen ausbrach, dass sein Nachbar ihn zur Raison zu rufen versuchte und er diesem entgegnete: Mein Herr, sehen sie nicht, dass ich arbeite?
Wobei: die Tonstörung folgte auf dem Fuße. Ein mehrsprachiges Theaterstück folgte, in Sprachen, die ich allesamt nicht beherrsche. Ich fühle mich an die Zeilen von Roland Barthes erinnert, der nach seinem Besuch in Japan festhielt: „Die rauschende Masse einer unbekannten Sprache bildet eine delikate Abschirmung; sie hüllt den Fremden in eine Haut von Tönen, die alle Entfremdung der Muttersprache vor seinen Ohren haltmachen lässt.“
Doch Achtung, Störung: Sie ist nicht akustischer Natur, sie leuchtet auf, von allen Seiten. Mit Übertiteln dieser Inszenierung beizukommen, ein fruchtloses Unterfangen.

Jean-Luc Nancy sagt: „Das Geräusch ist ein Klang der den Sinn freilässt. Die Musik ist ein Sinn, der den Klang nicht loslässt.“

Jean-Luc Nancy sagt: „Die Stimme: das, was an der Sprache berührt.“ Dasjenige, was an die Sprache rührt, die Stimme ist nicht nur rührend, sie rührt an.

Jean-Luc Nancy sagt: „Das Individuum, das singt und jenes, das hört – sind sicher, ganz einfach, auf äußerst schwindelerregende Weise, außer sich.“

Jean-Luc Nancy sagt: „Zuhören heißt, auf einen möglichen Sinn hin gespannt sein.“

Tonstörung. Mantrahaft wird das Thema im Programmheft wiederholt. Wo ist sie?

Hören hat einen physiologischen und einen psychologischen Aspekt. Irritierend, der schwarze Tänzer, der taubstumm sich zur Musik bewegt: Er spürt die Vibrationen in seinem Körper. Und übersetzt sie auf seine Weise in Bewegung.

Mikro-Distanz. Die technisch vermittelte Stimme ist nicht etwa ihrer Aura beraubt. Im Gegenteil. Sie erhält eine neue. Die Technik ermöglicht es uns, genauer zu hören, tiefer hinein zu hören. Aber: die Technik holt uns damit nicht nur näher ran, sie rückt uns auch weiter fort. Lautsprecher sind ein Medium der Distanzierung. Inszenierte Autobiophonie sagt Frau Dr. Meyer zu der Performance Testament von She She Pop. Klingt gut.

Playback-Bildtonstörung. Theo, der eine Vater, imitiert im Playback den Soundtrack sehr gut. Das Gefühl von Identität stellt sich ein. Manfred lacht sich gelegentlich kaputt. Aber er zeigt auch, dass er es kann. Die Differenz zwischen Sänger und Darsteller“ wird markiert. Peter schweigt. Maximale Differenz zur Identität des Sängers. Und doch singen seine Augen mit. Was geschieht hier. (Innere Stimme.)

Entäußerung. Entäußerung sagte der Moderator immer wieder, als er die Bewerber um das „Beste deutsche Tanzsolo“ ankündigte. Als ob Bewegung im Raum etwas mit Entäußerung zu tun hätte. Anders aber ist es bei der Stimme. Wer sie in Gebrauch nimmt, entäußert sich immer. Er ist nicht länger nur bei sich selbst. Hier liegt die tiefere Bedeutung des Rimbaudschen: „Je est un autre“. Ich ist ein Anderer.

Die maximale Tonstörung wäre eben nicht die, die sich uns ereignet. Die wahre Tonstörung fand statt vor Hunderten Millionen von Jahren, im Big Bang, der diese Erde erfüllte, ohne dass er eine Resonanz erfahren hat.

Noch einmal Ulrich Holbein: „Der Lärm war lange einsam. In seiner ersten Großtat, dem Urknall, hatte er sich von seiner lautesten Seite gezeigt, aber kein Gehör gefunden. Frustrierter Nachhall drang durch die Öde des jungen Kosmos. Knistern um sich selber kreisende Feedbacklosigkeit zog sich im Hintergrundsrauschen in die Länge. Schließlich, nach etlichen Jahrmilliarden, hielt es der Lärm nicht länger aus. Er brauchte Applaus, und vorher wollte er gehört werden. Es war, als ahne er, dass gehörter Lärm sich anders anhören würde als ungehörter Lärm, ganz anders, absolut anders.“ Oder um es mit der gleichen Stimme und einer anderen Stimme, mit Jean-Luc Nancy zu formulieren. „Der Sinn besteht in einem Verweis, in einer Resonanz.“

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Musikjournalist, Dramaturg