Die Kunst der freien Rede

Hey „Bad Boy“, da bist Du ja, ich sehe, Dir geht es prächtig. Und Deine Cowboykluft steht Dir wirklich gut. Toll, die Colts da im Holster, sind wohl wirkich geladen, ja? Echte Knaller drin, ja? Oh, Vorsicht, das ist gefährlich. Na, komm her und setz‘ dich, Onkel Frank will dir mal was erzählen.

Als ich 2008 mit den ersten Kolumnen für die NMZ unter dem Titel „Bad Boy“ begann (daraus wurde genau ein Jahr später dieser Blog), erregte dies Frank Hilberg dermaßen, dass er einen polemischen Text per Massenmail an so ziemlich jeden schickte, der in Deutschland mit Neuer Musik zu tun hatte. Dieser Text begann mit den obigen Zeilen. Hauptagenda war vermutlich, mein ohnehin nicht sehr geheim gehaltenes Pseudonym „Bad Boy“ sofort zu lüften und allen klarzumachen, dass es sich in Wirklichkeit um mich handelt. Neben diversen Seitenhieben auf die angeblich vollkommen Neue-Musik-feindliche NMZ-Redaktion beschäftigt sich der Text vor allem damit, mich als verwöhntes, fettes und unartiges Hätschelkindchen darzustellen, mit Zeilen wie:

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…während du, mein Junge, feiste Speckgürtel um die Hüften anlegst – ‚Wohlstandsverwahrlosung‘ nennen Sozialmediziner sowas – mal im Ernst, mein Junge, Du solltest mehr Sport treiben: „mens sana…“ und so weiter.

oder

na da erkenn ich Dich wieder, Ragazzi (sic!), ist schon klar, ist nicht schön, wenn die Schimmelbrüder aus der feindlichen Straßenclique einem ständig in den Sandkasten kacken. Mach sie alle! Aber ein bisschen verquast, vergilbt wird dein Stil ja schon, wenn Du dich aufregst.
Was ich nur nicht ganz verstehe ist, warum Du ständig um die Opas vom Feuilleton-Stammtisch rumeierst. Lass sie doch ihren Hölderlin-Skat kloppen, mit Ansage und allen Stichen… Lassen Dich nicht mitspielen, hm? Und hast sonst keinen, stimmt’s? Ja, das kränkt.

…um schließlich so zu enden:

Und dass Du jetzt jeden Monat bei der nmz absalbadern willst, dass ist doch nicht Dein Ernst, oder? Oder haben Dir’s die Onkels von der nmz versprochen? Ab ins Altenheim mit der Bande. Als cooler Droogie (sic!) solltest Du mit diesen Gerontokraten keine gemeinsame Sache machen. Kalk greift um sich – und schon hat die beste Knarre Ladehemmung. Naja, jetzt geh erst mal raus in den Sandkasten oder schwing Dich ans Hämmerklavier – kreativ sein beruhigt … Ich brauch mal ’ne Pause von soviel Pennälerschweiß.
Dein Onkel Frank
(hoffentlich sind Deine Eltern bald zurück)

Ich hole diesen wunderbar peinlichen und herablassenden, aber immerhin Ironie versuchenden Text immer wieder gerne heraus, denn er gehört definitiv mit zur Gründungsgeschichte dieses Blogs. Ich erinnere daran nicht, um den Bad Blog zu stilisieren. Wie jedes Feuilleton auch hat der Bad Blog seine Geschichte der Irrtümer und Irrwege, keine Frage.
Ich erinnere an „Onkelchen“ Hilberg (über dessen Text ich mich damals sehr gefreut habe), weil mir seine Reaktion aus der „Szene“ symptomatisch scheint für den immer wieder laut werdenden Wunsch, den Bad Blog und seine Autoren möglichst zum Schweigen zu bringen oder öffentlich zu diffamieren. Jüngstes Beispiel sind Äußerungen gegenüber unseren Autoren in Donaueschingen, die diesen nahe legten, sie sollten doch besser die Schnauze halten. Aber auch in der Vergangenheit gab es immer wieder Versuche, Artikel löschen zu lassen, z.B. bei Arnos ersten Darmstadt-Reportagen oder meinen Berichten vom Amazonas-Projekt bei der Biennale. Gottseidank kam man irgendwann darauf, dass ehrliche Berichte z.B. von einer solchen Unternehmung bessere Publicity sind, als offizielle Verlautbarungen voller gegenseitigem Schulterklopfen (die dann nie jemand liest – siehe z.B. die auch von wechselstrom in den Kommentaren beschriebene Selbstbeweihräucherung der Donaueschinger Musiktage… „von fürstlichen Gnaden“) – inzwischen ist der Amazonas-Blog übrigens auf den Seiten des Goethe-Instituts (Partner der Biennale bei diesem Projekt) zu finden, auf portugiesisch übersetzt.

Klar, wer irgend etwas schreibt, zu irgendetwas Stellung bezieht, muss sich Kritik aussetzen. Auch Zeitungskritiker kennen erzürnte Zuschriften voller Beschimpfungen zur Genüge, das ist schon in Ordnung so. Ich frage mich nur, warum gerade in der „Neuen-Musik-Szene“ eine derartige Unsouveränität im Umgang mit einem freien Forum wie dem Bad Blog herrscht, warum man sich so dadurch verunsichern lässt, dass man einzelne Autoren direkt angeht, und dann nicht so offen wie bei Hilberg (denn damit kann man umgehen). Dies ist immer ganz besonders der Fall, wenn es sich um satirische und ironische Artikel handelt.
Anscheinend darf nach wie vor nicht gelacht werden, wenn es um ernste Musik geht. Warum eigentlich? Vor was hat man Angst?

Schauen wir bewusst mal zurück in eine Zeit in der es – anders als heute – eine rege schriftliche Diskussion über aktuelle musikalische Themen gab, dem 19. Jahrhundert. Wie wir alle wissen war das 19. Jahrhundert das Jahrhundert des Bürgertums und der Hausmusik, einziges Medium unter Musikfreunden der Mitteilung war das gedruckte Wort. Gedruckte Noten und musikalische Zeitschriften gab es zuhauf, nicht nur die berühmte „Neue Zeitschrift für Musik“ (die in ihrer Anfangszeit – man kann es sich heute kaum vorstellen – tatsächlich zweimal die Woche (!!!) erschien, also öfter als heute „Der Spiegel“). Mein Großvater war ein begeisterter Sammler und Leser „musikalischer Konversationsmagazine“ und in seinem Nachlass habe ich manch erstaunlichen Schatz entdeckt. Was beim Lesen der alten Zeitschriften auffällt, ist nicht nur der den Zeitumständen entsprechende andere Ton, sondern vor allem die Leidenschaft, mit der kontrovers über aktuelle musikalische Themen diskutiert wurde. Was auch auffällt: es gibt nicht nur ernste Artikel sondern auch zahlreiche Glossen, Satiren, wunderbare Karikaturen. Man streitet sich und bezieht Position. Man machte sich lustig über alles und jeden, tatsächlich wurde man als Komponist erst dann geadelt, wenn man karikiert und veräppelt wurde, was die fast unüberschaubare Anzahl von z.B. Karikaturen von Richard Wagner und seinem Antipoden Brahms beweist.

Wie ist es heute? Natürlich findet ein Großteil der Diskussion nun über andere Medien als Zeitschriften statt. Aber ist die Diskussion letztlich so frei, wie sie damals war? Das Zeitungsfeuilleton – damals sehr wichtig, aber auch nicht wichtiger als die unabhängigen musikalischen Zeitschriften – befindet sich eher auf dem redaktionsbedingt erzwungenen Rückzug oder verfolgt seine eigene Agenda. Jedes Festival hat heute seine eigene Website, auf der stets nur ins Positive gefilterte Informationen zu lesen sind (was den Festivals nicht anzukreiden ist). Egal auf welche Website ich gehe, die mit Neuer Musik zu tun hat – alles ist ganz wunderbar, alles ist fantastisch, man produziert nur tolle und vor allem natürlich brandneue Klänge. Alles ist immer und ewig in Butter. Die Verbandsnachrichten des Deutschen Komponistenverbandes sind auch nicht der Ort, an dem ästhetische Diskussionen geführt werden (obwohl dies interessant sein könnte, immerhin ist es ja ein Verband von Komponisten aller Genres, also auch U-Musik). Und die wenigen und verdienstvollen freien musikalischen Zeitschriften von heute (besonders lobend möchte ich hier „KunstMusik“ und „Seiltanz“ erwähnen) erreichen leider zwangsläufig nur einen Bruchteil des Publikums, den ähnliche Unternehmungen früher hatten (da wurden Musikzeitschriften wesentlich mehr auch von Laien und Liebhabern gelesen, als dies heute der Fall ist). Das alles kann auf Dauer nicht gesund sein.

Internet also – sicherlich kein Allheilmittel und keine Verheißung an sich, aber eben schnellstes heutiges Medium. Der Bad Blog ist ganz sicher nicht der einzige Musikblog, aber wenn die Neue Musik – Szene so souverän wäre wie sie immer nach außen hin tut, wäre sie froh, wenn es ihn noch möglichst lange gibt. Ironie, Satire und auch mal ein unbequemes Wort zu vertragen ist ein Zeichen von Größe, nicht von Schwäche.

Gerade lese ich ein sehr interessantes Buch von David Deutsch, „The Beginning of Infinity“ In dem Buch versucht Deutsch unter anderem eine Erklärung dafür zu finden, warum im Zeitalter der Aufklärung eine solche Beschleunigung der Wissenschaft und der Erkenntnisse über die Welt einsetzen konnte (übrigens zeitgleich mit einer ähnlichen Beschleunigung in den Künsten). Er setzt dies in direktem Bezug zu einer Tradition der Kritik und der Überlieferung von Kritik, die es vorher in dieser Form noch nie gegeben hatte. Neu war auch, dass sich diese Kritik sich erstmals unabhängig von tradierten Dogmen entfalten konnte. Das heißt auch: unabhängig von den Meinungen der herrschenden Institutionen (damals meist der Kirche), und die Ängste vor Repressalien (Beispiel Galileo) zunehmend überwindend.

Übertragen auf die Musikwelt heißt die Lehre daraus für uns wie folgt: wie kann sich Neue Musik weiterentwickeln, wenn das einzige öffentliche „genehme“ Feedback dazu von genau den Institutionen und Verbänden kommt, die diese Musik selber aufführen lassen, nicht aber von denen, die diese Musik schreiben bzw. spielen? Und damit meine ich ganz bewusst die junge Generation, die man sich anscheinend lieber als stumme Workshopteilnehmer und Kursbesucher wünscht denn als unabhängige Stimmen.
Wenn wir ganz genau hinsehen ist das nämlich die aktuelle Situation, ominöse Drohungen und Repressalien inklusive (siehe oben).

Oder anders gesagt: Wir müssen kein „Karikaturenverbot“ fürchten, weil es ohnehin schon seit Ewigkeiten keine Karikaturen zeitgenössischer Komponisten gibt.

Schade eigentlich – denn dann wüsste ich, dass es uns richtig gut geht.

Moritz Eggert

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14 Antworten

  1. Lieber Moritz,

    nach der Lektüre deines Artikels kam mir spontan mein folgender über 10 Jahre alter Text in den Sinn, den ich jetzt mal ganz dreist ungekürzt hier anfüge (hoffentlich sprengt das nicht die Kommentarfunktion dieses Blogs – falls ja, bitte ich schon jetzt um Entschuldigung!).

    „Es ist wie eine Portion gemischtes Eis mit Schlag.“
    Ein Besuch des Festivals Neue Musik Stuttgart, Februar 1999

    1 Tagebuchausrisse, unzensiert
    „S 99-02-05 16:53 wir sind bereits recht früh an der spielstätte, einer umgebauten lagerhalle in einem häßlichen industriegebiet. eine nette organisationsdame frage ich nach pressekarten, & irgendwie ist es ihnen furchtbar peinlich, & irgendwie sollen wir unser ganzes eintrittsgeld zurückbekommen, was mich in rätselhafte euphorie versetzt. einer der komponisten des abends, andreas dohmen, steht bebrillt an unserem stehtischchen & benimmt sich neurotisch. pintscher ist da, ausstaffiert wie ein dressman, walter im weinroten v-pullover mit t-shirt, lachenmann taucht auf, ein garstiger riese mit fettigem, in’s gesicht hängendem haupthaar; auch dieser langweilige, ungepflegte musikologe frisius. ich erstehe walter’s eben erschienene timescraper-c.d. »knoten« für d.m. 30,00. endlich geht’s los. klangkörper des abends ist ein hochkarätiges vokalensemble, für das die stücke wohl auch geschrieben wurden. komposition #1 von einem gewissen bergande könnte man besser performance mit musik nennen. die vokalisten sind in trashige klamotten gekleidet & haben muffige stehlampen zu bedienen, rezitieren texte über planetenkonstellationen & wandern schließlich lässig in den bühnenhintergrund, um choreografiert mit den füßen zu trampeln. doch was an musik zu hören ist, ist fein ausgesponnene poesie, unvorhersagbar & angenehm, auch: – spannend. der meister ist ein großer, massiger, schüchtern, vergeistigt & introvertiert wirkender mann im uni-assistenten-look. komposition #2 stammt von herrn dohmen. die vokalisten lauschen sich ihre hervorbringungen gegenseitig mithilfe winziger diktaphone ab. snare drums werden qua stimme zum resonieren gebracht. alles ein wenig ausgedacht, aber hübsch anzuhören. natürlich hat sowas erfolg … pause, dann weiter. walter’s kompositorisches gespinst stellt alles vorangegangene weit in den schatten. sein eminenter stil hat tiefe & velozität, spannt an & fordert dem hörer viel ab: da hat einer tief in sich gegraben, eine bedeutende un-ordnung zutage gefördert, sich nicht entmutigen lassen & alle zutage getretenen brocken mühsam in musikalischen ausdruck zu wandeln versucht. passagen schmerzhafter existenzangst wechseln mit ausbrüchen von schönheit & solchen perkussiver repetitivität. was soll dann noch kommen? es kommt ein un-inspiriert aufgeblasener pintscher: müder abklatsch dessen, was ich in K zu hören bekam. mit seiner kraftmeierei ist er wohl am ende. bah!“ […] „Zug S – WÜ 99-02-07 10:58 »Eclat II« mit werken schweizerischer meister enttäuscht ein wenig. einzig ein karg reduziertes stückchen für kontrabass solo des jungen klaus lang bleibt im gedächtnis: eine ganz krasse verweigerungshaltung gegenüber den schein-komplexen zumutungen des neue-musik-idioms. la-monte-young-schüler lang ist der einzige komponist, der klare zurückweisung vom publikum erfährt: wird ausgebuht, hinter uns ruft einer auf schwäbisch »scheise« mit ganz weichem s und breitem ei. die hochvirtuosen doppelkonzert-belanglosigkeiten der furrer (2 klaviere) und eötvös (kein schweizer, sondern wohl ein ungar; flöte / klarinette) vermögen mich kaum vom sitz zu reißen. noch weniger allerdings die endlos gefällig fließende kammermusik des komponierenden systemtheoretikers kyburz. der beste mann des abends heißt zweifellos peter böhm: er führte die klangregie …“ […] „wir entschließen uns, noch eine zusatzveranstaltung am samstag morgen auf uns zu nehmen, die die örtliche musikhochschule zu ehren lachenmanns veranstaltet. trocken brot, um es kurz zu machen. lachenmann ist ein sehr deutscher komponist mit sehr deutschen eigenschaften. für ihn zählen leistung, disziplin & engagement. späßchen läßt er nicht mit sich treiben. für ihn gilt, was dieter hildebrandt über hans-jochen vogel sagte: »man merkt nicht nur, dass er abitur hat, sondern auch, dass man’s bei ihm machen kann.« treiben tut ihn ein humanismus von gnadenloser sanftheit, gepaart mit unerschöpflichem idealismus, der, meint er ablehnung zu spüren, sofort in schroffste arroganz umzuschlagen vermag. die neue-musik-mäßig abgerichteten musikhochschüler tun mir leid in ihrer dressiertheit. die ausführung des, pardon: – komplexen ensemblestücks verlangt ihnen ganz offensichtlich das letzte ab. man spürt deutlich einen unterschied zur spielpraxis der ganz ausgebufften profis in den haupt-konzerten. das referat einer jungen musikologin, kompositions-techniken des soeben gehörten werks ausfaltend, ist blass & schüchtern im vortrag, dabei fleißig & substanzreich gearbeitet. der aberwitz des lachenmann’schen post-serialismus enthüllt sich zur gänze. den / die möcht‘ ich sehen, der das schafft, ein werk lachenmanns aus ganzem herzen zu lieben, anstatt bloß zu respekt, devotion & verehrung gezwungen zu sein. nach allen schluss-appläusen erscheint der meister düster-messianischen blicks in persona auf der bühne, predigt ein wenig, leise & eindringlich, mahnt uns alle zu ein- & umkehr, zu buße & reue, küsst einen älteren cellisten segnend auf die glatze (wozu er sich bücken muss), spricht mit unnachahmlich dunkler prophetie von »hoffnung für unsere sache« (welche sache?) & kommandiert schließlich im abgehen alle beteiligten noch ein wenig auf der bühne herum.“ […] „walter’s gänzlich un-prätentiöse musik für einen niederschlesischen kumpel (=bergmann) bringt den erwarteten höhepunkt »unseres festivals«: neue musik mit seele, dargeboten vom komponisten selbst & zweien seiner freunde an cello & trompete. der parallel projizierte film besänftigt mit ruhigen winterbildern. dazu die leicht nuschelige, aber angenehme arbeiterstimme des protagonisten aus dem off, die grausigen wahrheiten seines vertriebenen-lebens berichtend. dichte, stimmige atmosphäre, der filmemacher hat vieles richtig gemacht. 12:43“

    2 Fast ein halbes Jahr später
    Guido Zimmermann und dem Südwestrundfunk sei Dank stehen mir alle uraufgeführten Werke auf Cassette zur Verfügung und ich muss einige meiner spontanen Frechheiten revidieren: Martin Bergandes (*1960) Stück „als wenn nicht alles daran recht aneinanderhinge; s“ (mein Gott, diese abschreckenden Manierismen in der Titelgebung!!!) erscheint mir jetzt als stärkste Komposition des ersten Abends, gerade in ihrer Zerbrechlichkeit und Ausgespartheit. Dem auf Andreas Dohmens (*1962) Beitrag gemünzten Begriff ‚Ausgedachtheit‘ wären folgende beizugesellen: Leere, Langeweile, Effektgeilheit. Das Phänomen Caspar Johannes Walter (*1964) erscheint mir, je länger ich es erlausche, lediglich auf systematischer Kultivierung von Idiosynkrasien zu fußen, was ja auf die Dauer auch nicht weiterführt. Dem so rüde abgewatschten Matthias Pintscher (*1971) muss ich immerhin Effektsicherheit, handwerkliches Können und eine gewisse Expressivität zugestehen. – Hanspeter Kyburz‘ (*1960) Kammermusik klingt bei wiederholtem Hören immer glatter und reaktionärer, Klaus Langs (*1971) Kontrabaß-Solo „Die drei Spiegel der schönen Karin“ (sic!) dagegen regt mich auch weiterhin an, zu den akademisierenden Doppelkonzert-Pretiosen von Peter Eötvös (*1944) und Beat Furrer (*1954) fällt mir auch weiterhin nix ein.

    3 Betriebsunfälle
    „Lieber Herr Jahn! Ich denke, die Wirklichkeit ist eine Tiefkühltruhe! Nachdem Sie keinen durchgeformten Text von mir benötigen, führe ich in folgendem Text nicht ein enges Thema durch, sondern äußere Gedanken oder Henaden [„Einfachheiten“ im Gegensatz zur Vielfalt; S. H.] zu einer Vielzahl von Problemen, die nach meinem Dafürhalten miteinander in Beziehung stehen. Alles hängt irgendwie zusammen, nichts ist wirklich zu einer endgültigen Lösung gebracht. Es ist wie eine Portion gemischtes Eis mit Schlag. […] eigentlich bestehen unüberbrückbare Gegensätze zwischen Zitrone und Schokolade, trotzdem, als Ganzes betrachtet entsteht doch irgendwie eine Einheit, wenn sei auch nur von kurzer Dauer sein kann. Ich … denke, daß es mit dem Wesentlichen … so ist wie mit den Geistern: Wenn die Ethnologen kommen, um sie … zu messen, dann verlassen sie die Insel …“ Der Autor dieses Briefes ist der 28jährige Grazer Lang, Adressat ist Hans-Peter Jahn, der Künstlerische Leiter des „Eclat“-Festivals. Abgedruckt ist der Text im Programmheft. Langs unironisch ein-tönige Musik sorgte für den meines Wissens einzigen tatsächlichen Eklat beim gleichnamigen Festival. Neben den (spontanen?) Unmutsbezeugungen des Premierenpublikums (siehe oben) sprach die FAZ der Komposition später in Henkermanier gleich die Existenzberechtigung ab: „Was die Uraufführung des … Kontrabaß-Solostücks … von Klaus Lang … [hier] zu suchen hatte, wurde nicht ersichtlich.“. Lang, der einsam und traurig durch die Hallen schlich, wurde nach meiner eigenen Beobachtung von seinen Komponistenkollegen konsequent geschnitten. Tja, der junge Mann hat da wohl ein wenig über die Stränge geschlagen und, wie sagte man im APO-Jargon so schön, „das establishment provoziert“. Das gelingt Ende des 20. Jahrhunderts offenbar am Sichersten durch eine „henadische“ Ästhetik: den Vorweis von Einfachheit und Nicht-Zusammengesetzheit als ästhetischen Protest gegen Vielheit und Vielstimmigkeit. So wie Klaus Lang das macht, können das nur Hofschranzen mit „Einfallslosigkeit“, gar „Naivität“ verwechseln. Naiv erscheinen mir da eher die Technizismen eines Dohmen, einfallslos die perfekte Glätte eines Eötvos. Der Neue-Musik-Betrieb bleibt eben schizophren: auf der einen Seite der (absurde) Anspruch, an der Spitze musikalischer Materialbehandlung zu stehen, auf der anderen Seite die Herrschaft konservativer akademischer Hierarchen, die jedes Aufmucken gegen die gerade herrschende Doktrin (hier: „Pluralismus“) übel abstrafen.

    Der Text erschien ursprünglich hier.

  2. Guntram Erbe sagt:

    Moritz fordert, das Feedback zur Neuen Musik müsse kommen von denen, die diese Musik schreiben bzw. spielen, und dadurch fühlt sich Stefan Hetzel aufgerufen, das mit einem langen Text zu tun.

    Und was finde ich in dem langen Text?
    Recht selbstsichere Gefühligkeiten, einige Ressentiments, gönnerhaftes Dennochlob.
    Moritz meinte dagegen Texte, die mithelfen, dass sich in der Neuen Musik etwas entwickeln kann. Freilich weiß ich nicht so recht, wie das gehen soll, außer er setzt sich mit einem anderen Komponisten/Interpreten zusammen und diskutiert am Gemachten, am Material, am Entwurf, am Machen, was Sache ist und sein könnte.
    Dass ein Text wie der obige von Stefan Hetzel irgendjemandem zur Weiterentwicklung hilft, möchte ich bezweifeln.

    Guntram Erbe

  3. @Guntram Erbe: Das wichtige an dem Text von Stefan Hetzel scheint mir zu sein, dass er seine Befindlichkeit als junger Komponist wideergibt (der Text ist ja wie er selber schreibt 10 Jahre alt) – ich glaube es erhebt nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit sondern ist eher ein authentisches Dokument… finde ich eigentlich ehrlich gesagt ok und auch durchaus interessant zu lesen, was man so als junger Komponist beim eclat-Festival empfand!

  4. @Guntram Erbe: Natürlich ist mein Text gefühlig, ressentimentgeladen und gönnerhaft, genau deswegen habe ich ihn hier gepostet. Denn exakt diese emotionale Seite kommt ja beim Reden über „Neue Musik“ oft zu kurz. Und Emotionen sind nun mal selten politisch korrekt – sie sind meistens ungerecht, einseitig, manchmal sogar infantil und unverantwortlich. Vor allem aber machen sie einen angreifbar, weil man das Terrain des rational Begründbaren verlässt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sinnlos ist, jemanden mit rein intellektuellen Mitteln von der Qualität einer Musik zu überzeugen. Bestenfalls wird er/sie diese Musik irgendwann selbst als „rein intellektuell“ wahrnehmen. Und rein intellektuelle Musik (falls es so etwas überhaupt geben sollte, was ich bezweifle) kann man eben nicht lieben: man kann sie nur bewundern, anstarren, verehren. Will sagen: wenn da nicht ein Nucleus an kindischer Begeisterung für eine Musik immer schon da ist, helfen ganze Doktorarbeiten nicht, um sie „schmackhaft“ zu machen. Das heißt nun nicht, dass ich künftig den Intellekt aus dem Diskurs über Musik ausgeblendet wissen will, um einem vermeintlich authentischen „Lebensgefühl“ das Feld zu räumen (und ich hoffe auch nicht, dass mein Eclat-Text diesen Eindruck erweckt hat) – da könnten wir ja gleich den Geniebegriff des 18. und 19. Jahrhunderts wieder einführen (wird übrigens immer wieder gern gemacht). Es geht mir vielmehr um eine ausgewogene, ganzheitliche Re-Konstruktion von (nicht nur musikalischer) Sensibilität, die sich, frei nach Friedrich Schlegel, „systematisch damit abfindet, kein System zu haben“ (im Original: „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keines zu haben. Er wird sich also entscheiden müssen, beides zu verbinden.“).

  5. Guntram Erbe sagt:

    Lieber Stefan Hetzel, vielen Dank für die besonnene Reaktion auf meine knapp formulierten Einwände. Moritz tat Recht daran, mich auf die Intention des Textes von 1999 hinzuweisen.
    Doch alles Reden und Schreiben hilft nichts gegen das Dilemma, dem ein Komponist unausweichlich begegnet: einerseits macht ihn Emotion stark, andererseits kommt er ohne zumindest teilweise geistige (auch intellektuelle) Durchdringung des eigenen Tuns nicht aus. Ich rede ja keineswegs dem Versuch das Wort, Neue Musik sprachlich mit rein intellektuellen Mitteln zu vermitteln. Aber es schadet nicht, ja es hilft, über das Machen zu reflektieren, und das auch im Gespräch mit Laien. Letztlich aber – das habe ich hier im Blog schon mal an anderer Stelle ähnlich geschrieben – muss die Musik selbst überzeugen und den Zuhörer packen.
    Dass dem Neuen eine alte Garde, die sich verlässlich und („dennoch“) modern fühlt, skeptisch und manchmal mit Unverständnis entgegensteht, ist so alt wie die Musik selbst. Durch diesen Umstand kam ich dankenswerterweise zur Bekanntschaft mit Moritz. Ich erinnere an seine im „Team“ (im Nichtteam) geschriebene Internetsinfonie, bei der sich ein Beteiligter nicht entblödete, Moritz‘ Schlusssatz ohne Absprache einen anderen Schluss anzuhängen. Moritz hatte nach meiner Meinung als Einziger des Triumvirats den verkündeten Vorgaben entsprochen, nicht dagegen die Zyklopenmusik des Revisionisten, dem ich deutlich den Marsch blies, sicher auch sehr emotional, aber eben nicht nur.
    „Die Kunst der freien Rede“ über die Neue Musik beginnt damit, dass der Redner selbst sie als alltäglich empfindet. Dabei lohnt es sich meiner Meinung nach nicht, über den zwangsläufig zuhauf produzierten Schrott viele Worte zu verfassen, sondern dem mit Sprache nahezukommen, das einen überzeugt, das einen mitreißt, das einen inspiriert, Eigenes zu machen. Ohren auf und Mund zu sollte allen Stellungnahmen vorausgehen.
    Dass es auch ironisch, lustig und manchmal vielleicht mit etwas Häme zugehen darf, ist doch klar. Obiger Schrieb von Frank Hilberg löst das keineswegs ein. Er hat halt nicht bemerkt, dass er eigentlich sich selbst entblößt hat.
    Lieber Moritz, wenn gewünscht, kann ich Dich gerne karikieren. Ich denke an Ähnliches wie hier bei Ambrose Bierce, mit Deinem Kopf und entsprechenden Händen. Der Pferdefuß „passt schon“:
    http://www.netzine.de/bierce/

    Guntram Erbe

  6. @Guntram Erbe:

    :-))

    @Moritz Eggert: Der Text von Frank Hilberg ist schlicht beleidigend, und zwar tief unter der Gürtellinie. Von „Witzischkeit“ keine Spur. Ist der Herr tatsächlich der Verantwortliche für Neue Musik beim größten deutschen Sender? Ich bin fassungslos. Was soll das? War der Herr nicht ganz bei sich? Hat er diesen Text wirklich als „Massenmail“ verschickt? Junge junge, da heißt es sehr viel Humor haben für den „Karikierten“, Respekt. Außerdem verstehe ich Hilbergs „Western“-Metaphorik bzgl. „Bad Boy“ nicht. Ich dachte, der Blogtitel sei eine Anspielung auf George Antheil (aber sowas muss ein WDR-Redakteur für Neue Musik vermutlich nicht checken, hehe).

  7. @Stefan: Ja, das ist der Hilberg vom WDR. Ich hätte mir auch gewünscht, dass sein Text etwas lustiger gewesen wäre, aber man kann nicht alles haben :-)
    @Guntram: Für Karikaturen jeder Art stehe ich jederzeit gerne Modell!

  8. querstand sagt:

    @ Hetzel: Schön wie Sie in Ihrem jahrealten Beitrag die zweite Kurve einbauten, wo Sie manches Stück nochmals anders Revue passieren liessen. Es ist doch immer so mit neuen Stücken, und seinen sie nur erstmal persönlich für den Hörer neu, dass die Stücke die beste Wirkung, den nachhaltigsten Eindruck erlauben, die sich einem so richtig verweigern, was nervt, aber umso mehr geknackt werden möchte. Da liegt vielleicht die Crux! Neue Musik, neu komponierte Musik sollte nicht im Tagespressenredaktionsschlussformat durchgehechelt werden. So schön sie als Novität in diese sensationelle Lust passt, so sehr sperrt sie sich eben dagegen

    @ Moritz: Sehr schöner Artikel – ich vermisse wirklich Stockhausen und Barraqué-Karikaturen. Wie wäre es mit Pierre Schäffer, Paul Sacher und Co.? Die gehörten auch dazu… So ist uns nur honoriges Bildmaterial überliefert… Sollte man Gerichtsskizzen auch in Neuen Musik Events anfertigen lassen? Immerhin legte Rihm ja mit im-Konzert-komponieren mal los, da wäre dies eine weitere bildnerische Konsequenz. Retrospektiv ist es heute doch sooo viel ernster als vor 100/150 Jahren…

    Gruß,
    A. Strauch

  9. Guntram Erbe sagt:

    Wer nicht sucht, der findet nicht.
    Siehe hier

  10. @querstand: Exakt das wollte ich mit diesem Text ausdrücken, vielen Dank! Bin erleichert, hier auf Verständnis zu stoßen. Hatte schon befürchtet, mein Text würde nur diese wohlfeile „Junger-Komponist-disst-die-alten-Säcke“-Emotion rüberbringen (was er ja durchaus auch tut). Viel wichtiger war mir jedoch, und das merke ich selber auch erst jetzt beim Wiederlesen, schlicht am eigenen Beispiel zu zeigen, wie falsch man mit vorschnellen harten Urteilen gerade über Neue Musik oft liegen kann – und damit komme ich wieder zu Moritz‘ „Kunst der freien Rede“ zurück: eine lebendige Diskussion über „Neue Musik“ kann nur zwischen Individuen (übrigens gern auch weiblichen Geschlechts) stattfinden, Verbände, Vereine und Lobbyisten haben andere Aufgaben! Ein Individuum, wie ich es verstehe, muss aber doch mehr sein als „Preisträger“, „Composer-in-Residence“, Verbandsfunktionär etc. – es muss das Recht haben, in die Sch… zu greifen. Allerdings kommt es dann schon darauf an, auf welchem Niveau (hoppla, hier entgleitet mir die Metapher ein wenig, weswegen ich schließen möchte).

  11. Guntram Erbe sagt:

    Für mich als 70-Jährigen ist ein Komponist, der 1999 33 Jahre alt war, zwar auch heute noch jung, aber unter einem „jungen Komponisten“, der auch ruhig aufmüpfig sein darf und es auch sein soll, stelle ich mir eigentlich einen unter 30 vor. Einer, der in diesem Bezug für sich mit 33 „jung“ zu sein vorgibt, sieht für mich in so einem Fall recht alt aus. ;-))

    Gntram Erbe

  12. @Guntram Erbe: Sehr richtig, ist mir auch gerade aufgefallen: peinlich peinlich. Pintscher ist sogar fünf Jahre jünger als ich! Also: ersetze „Junger-Komponist-disst-die-alten-Säcke“ durch „Outsider-disst-Insider“. Dann stimmt’s aber wieder. Nix für ungut ;-)

    Stefan Hetzel, 45

  13. @Guntram: vielen Dank, sehr schön! Vor allem das „pfff-fff“….