„…classical music is killing itself, and no-one cares anymore…“

Ich bin gerade auf zwei sehr unterschiedliche Blogs aufmerksam gemacht worden, die sich beide mit Thematiken befassen, wie sie auch hier im Bad Blog vorkommen.

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Der erste dieser Blogs ist „Weltsicht Aus der Nische“ des „Musikers, Komponisten und Gelegenheitsbloggers“ Stefan Hetzel. Stefan ist ziemlich fleißig für einen „Gelegenheitsblogger“, seine letzten Beiträge umfassen Kommentare zu Steve Reich’s neuem und höchst umstrittenem „9/11“-Werk (dem ersten zeitgenössischen Stück mit „zensiertem“ CD-Cover meines Wissens, oder gab es ein anderes vorher? Nachdem ja jetzt gerade Modellflugzeuge das Pentagon zerstören sollten – wie heute in den Nachrichten zu hören – sind natürlich nun auch Modellflugzeugzeitschriftencover höchst verdächtig), Death Metal und Jean Baudrillard (sind eigentlich ALLE Neue Musik-Fans in Wirklichkeit Metal-Fans? Auf Facebook scheint es manchmal so… Warum lebt ihr das nicht einfach aus und gründet eine Band? Ok, Stefans Artikel geht eigentlich gar nicht um Metal sondern heißt nur so), eine sehr schöne Glosse über den doofen Satz „Ich verstehe nichts von Musik“, ein Aufruf zu mehr Kritik am „Klassischen“ und ein wirklich schönes Video mit Musik von Hetzel und Bildern von Ralf Schuster.

Allen Lesern des Bad Blogs sei ein Besuch dieses Blogs empfohlen, ich persönlich fand auf jeden Fall Stefans Gedanken sehr lesenswert!

Ähnliches Terrain betritt dieser englische Blog (von John Strieder gefunden), allerdings zieht er sehr skurrile Schlüsse: The Biting Point (auf Englisch). Seitenlang entwirft die anonyme Autorin „Eidelyn“ (ich nehme an, dass es eine Autorin ist, da die Diskriminierung von Frauen in der klassischen Musik eine sehr große Rolle spielt) Gegenentwürfe zu der von ihr als vollkommen hoffnungslos empfundenen Situation in der klassischen wie auch E-Musik. Das Ganze mündet in – was sonst – einem „Manifesto: Towards a New Classical Music Culture“, dem „pièce de resistance“ des Blogs. Wer sich durch diesen langen Text durcharbeitet wird einen ganzen Reigen widersprüchlicher Gefühle erleben, die von „genauso ist es!“ bis „spinnt die total?“ reichen werden.
Eidelyn entwirft hier eine sehr desolate Sicht der klassischen Musikszene, die sich ihrer Ansicht nach nicht aus ihrer eigenen Institutionalisierung und Sattheit befreien werden und daher nicht mehr den Anspruch auf wahrhafte (und wehrhafte) Kunst erheben kann (hier werden ihr die meisten Leser des Blogs wohl zustimmen). Sie entwickelt mögliche Gegenmodelle, die vor allem darin bestehen, es der „Independent“-Music-Szene gleichzumachen und sich vollkommen von jeder Unterstützung durch Staat, Institutionen oder Förderung zu lösen. Auch hier werden ihr einige noch gedanklich folgen. Nicht mehr alle folgen werden ihrem Gedanken sich auch musikalisch vor allem an Mustern der Popmusik zu orientieren, aber dann doch keine Popmusik zu schreiben. Wie genau das gehen soll, ist ihr vermutlich selber nicht 100% klar, ihre Helden sind auf jeden Fall Komponisten wie Nico Muhly (der mit der Facebook-Oper) oder Steve Reich, denen es gelungen ist, „hip“ zu sein. Sie empfiehlt angehenden Komponisten ganz unzynisch, sich eine „public personality“ zuzulegen, die auch völlig frei erfunden sein kann, und ähnlich wie Popstars ein Spiel mit Publicity und Marketing zu betreiben.
In jüngeren Beitragen entwickelt sie eine „New Politics of Art Music“ und fordert eine bedingungslose antikapitalistische (Musik muss frei und für jedermann zugänglich sein, fernab vom Establishment und möglichst unabhängig) wie auch antireligiöse (Chormusik muss z.B. von dem Joch der Kirche befreit werden, in der sie ihrer Meinung nach zu viel verankert ist) Haltung. Bemerkenswert ist auch ihre Kritik am klassischen Opernbetrieb, in der sie das alte Repertoire nicht etwa aus musikalischen sondern thematischen Gründen ablehnt – viel zu sehr sind nämlich Frauen in der Opernliteratur des 19. Jahrhunderts ihrer Meinung nach in der „Opferrolle“, und das würde ja Menschen von heute einfach nichts mehr sagen. Sie hat nicht ganz unrecht damit…

Wie auch immer, das ist alles sehr streitbar, aber es ist wenigstens mal ein Versuch, wirklich wichtige musikpolitische Themen ausführlich zu bearbeiten, ohne in intellektuell selbstreflektiver Umkreisung zu verharren. Das Ganze ist sehr angloamerikanisch geprägt – dort ist nämlich viel eher so, dass die „Independent“-Szene den Platz der klassischen Musik bei der jungen Generation eingenommen hat als hier. Zum Teil agiert die britische Kulturpolitik hier viel extremer als hier – so wurde neulich eine öffentliche Debatte darüber angezettellt, ob klassische Musik für die britische Jugend überhaupt noch relevant sei, hier wäre das (noch) unvorstellbar. Auch über diese Debatte – an der auch Prominente wie Stephen Fry eloquent mitwirkten – schreibt Eidelyn.

Ich habe Eidelyn – die sich im Gegensatz zu ihren Forderungen eher in Anonymität auch als Komponistin hüllt, insofern ist wenig im Netz über ihre Arbeit zu finden – mal angeschrieben und sie eingeladen, für unseren Blog mal was auf Englisch zu schreiben, bisher hat sie aber noch nicht geantwortet. Hoffen wir zumindest, dass sie wenigstens eine gute Diskussion auslöst.

Moritz Eggert

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2 Antworten

  1. strieder sagt:

    Anders: Alle Metal-Fans sind in Wirklichkeit Neue Musik-Fans! ;)

  2. Wow, auch ich habe mich gerade durch die Langversion von eidelyns (wer immer das ist) Manifest „Towards a New Classical Music Culture“ gefressen – was für ein brillanter Text! Sie (ich sag‘ jetzt ‚mal „sie“) argumentiert so klar und zwingend, dass man ihren Linien selbst dann folgen muss, wenn sie ins Nirwana führen. Am Brisantesten finde ihre Ausführungen, wo sie am ihrer Meinung nach überkommenen Wertesystem zeitgenössischer E-Musik-Komponisten rüttelt; das stellt eine Verbindung zwischen Komponistenpersönlichkeit und musikalischem Output her, die eigentlich selbstverständlich sein sollte und im Independent Pop, eidelyns angestrebtem „Erfolgsmodell“, auch ist, aber in der Neuen Musik, warum auch immer, für mich nicht ausreichend spürbar ist. Ich will doch Musik von Individuen hören, nicht von Preisträgern (wobei, um mal nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten, das Eine das Andere natürlich nicht ausschließt). Das Individuum kann und darf irren, peinlich sein, Unsinn reden, versagen, durchschnittlich sein – all dies ist dem Preisträger untersagt (bzw. sie untersagt es sich). Eidelyns Text ist eine brillante Analyse der soziokulturellen Lage der Zeitgenössischen Musik, es ist ein entschiedenes Plädoyer für postmodernes Handeln – dass sie nicht mit „fertigen“ Vorschlägen ankommt, wie die „neue“ Neue Musik denn nun konkret auszusehen habe, was Moritz oben beklagt, schmälert meine Bewunderung nicht. Ein Manifest kann schließlich keine Musik ersetzen.

    But it is up to the musicians to take the first steps.