Waldeinsamkeit

Ihr erinnert euch: vor einiger Zeit berichtete ich über die geplante Abschaffung des Musikunterrichts in Luxemburg, inzwischen wurde ich gebeten, für das „Luxemburger Wort“ einen Gastartikel zu diesem Thema zu schreiben, der vor einigen Tagen veröffentlicht wurde. Da es in dem Artikel um den generellen europäischen Umgang mit Kultur geht, wollte ich ihn euch nicht vorenthalten.

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Waldeinsamkeit – wider der Abschaffung des Musikunterrichts in Luxemburg

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Jedes Jahr stellen sich bei uns an der Musikhochschule hunderte von neuen Studenten vor. Viele davon aus anderen Ländern. Sie alle werden gefragt, warum sie in Europa studieren wollen. Stellvertretend für viele spricht ein iranischer Student, der seine Familie und eine anstehende Verlobung hinter sich gelassen, alles aufgegeben hat, um in Europa Musik zu studieren: „Für mich ist Europa die „Mutter“ der Musik, eine Kulturregion in der – ganz anders als in meinem Heimatland – Musik eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben spielt, in der das Musikmachen gefördert und unterstützt wird. Nur hier will ich sein.“
Im Iran ist es verboten, bestimmte Arten von Musik zu machen. Man trifft sich dazu an geheimen Orten, an denen man jederzeit verhaftet werden kann. In China war zu Zeiten der Kulturrevolution klassische Musik aus dem Abendland verpönt. Ich kenne einen Klavierlehrer, dem in einem Arbeitslager die Hände zertrümmert wurden, weil er heimlich Impromptus von Schubert spielte. In anderen Ländern ist klassische Musik nicht verboten, aber unmöglich, keine Errungenschaft.
Warum ich das alles erzähle? Weil Luxemburg für mich Europa ist, ein Land im Herzen unserer Kulturregion. Ein Land, das immer wieder hervorragende Musiker hervorgebracht hat und für seine außergewöhnlich gute Musikausbildung von frühester Jugend gelobt wird. Und das nun den Musikunterricht in der Schule quasi abschaffen will.
Was das bedeutet, muss man sich vor Augen führen. Die Musikausbildung basiert immer auf mehreren Stufen: Die erste ist die Förderung im Vorschulalter, das Erlernen des ersten Instruments, vielleicht privat, vielleicht an einer Musikschule. Später kommt dann das Konservatorium, die Hochschule, Stipendien und Preise, und zwar für die wenigen, die sich entschlossen haben, den Musikerberuf zu ergreifen. Das Bindeglied in der Mitte ist aber die Schule, in der immerhin die Jugendlichen die längste Zeit verbringen. Hier kommt alles zusammen, hier verbinden sich die Welten. Genau wie der Kunstunterricht den Blick auf die Schönheit der Welt schärft, ohne dass jeder, der ihn besucht, ein neuer Picasso werden muss, lehrt der Musikunterricht Allen – egal ob sie Musik machen oder nicht – die Schönheit der klingenden Welt.
Es ist ein allgemein verbreiteter Irrtum, dass Musikunterricht in der Schule nur für die Sinn macht, die auch ein Instrument spielen. Das ist genau so dumm wie zu behaupten, Lesen und Schreiben müssten nur diejenigen lernen, die später auch für eine Zeitung schreiben. Echte Würdigung beruht auf Kenntnis der Dinge. Schule kann nicht alles lehren, sie kann aber ein Tor zu den Dingen sein, die Augen öffnen, Anregungen geben. Mit Schülern Musik zu machen oder ihnen davon zu erzählen ist keine verschwendete Zeit. Mal abgesehen von der immer wieder nachgewiesenen Förderung logischer, motorischer und kreativer Fähigkeiten durch Musik (so offensichtlich und hundertmal nachgewiesen, dass es eigentlich peinlich ist, es überhaupt erwähnen zu müssen), ist Musikunterricht ein Blick auf das wertvollste Erbe, das wir Europäer besitzen: ein Blick auf unsere Kulturgeschichte, die unter anderem eine der größten Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit beinhaltet, nämlich unsere Notenschrift. In Luxemburg scheint man darauf nicht mehr stolz zu sein.
Seltsam: immer wieder wenn ich besonders intelligente Menschen treffe. fällt mir eines auf: Ein Großteil von ihnen begeistert sich für Musik. . Entweder hören sie leidenschaftlich Musik oder sie spielen ein Instrument. Der geigenspielende Einstein war keine exzentrische Ausnahme, sondern eher etwas ganz normales unter seinen Kollegen. Es ist in den meisten Städten kein Problem, ein Studenten-, Ärzte-, Manager- oder Wissenschaftlerhobbyorchester zu finden, das regelmäßig musiziert. Aber Musik kennt keine Stände, keine Schichten. Menschen aus allen Bereichen des Lebens (und das ist besonders wichtig) versammeln und organisieren sich in Chören, Zupf-, Akkordeon- und Blasorchestern, überall in ganz Europa. Sie tun es, weil das gemeinsame Musizieren eine der wenigen wirklich schönen und erhebenden Tätigkeiten ist, die eine größere Gruppe von Menschen unternehmen kann. Wer gemeinsam musiziert, trägt als kreatives und freies Individuum sinnvoll etwas zu einem größeren Ganzen bei. Wo hat man das schon auf dieser Welt? Das einzige, was es nur selten gibt, sind Politikerorchester. Vielleicht ist das auch das Problem.
In den letzten Jahren ist in Europa ein immer bedrohlicher werdender „Paradigmenwechsel“ im Gange. Wir erleben zunehmend den Fall kultureller Werte, täglich sind aufs Neue Orchester, Theater, Universitäten und vieles andere bedroht. Den meisten Europäern scheint dies egal zu sein, und immer wieder inszenieren sich Politiker als deren Agenten. Das liegt aber nicht daran, dass diese Europäer Kultur nicht mögen, sondern daran, dass sie sich gar nicht vorstellen können, ohne Kultur zu sein. Es ist ein bisschen wie wenn man in einem grünen Wald aufwächst, in dem jeden Tag Bäume gefällt werden. In der eigenen Vorstellung ist der Wald endlos, unermesslich, und es kommt nicht auf einen Baum mehr oder weniger an. Doch irgendwann ist der letzte Baum gefällt, und man wundert sich darüber, dass etwas verloren gegangen ist. Unwiederbringlich.
Natürlich wird die Welt nicht untergehen, wenn in Luxemburg der Musikunterricht für die höheren Klassen abgeschafft wird. Irgendwie wird sich das Rad der Dinge weiterdrehen. Doch wieder wird es ein wenig stiller in unserem europäischen Orchester, ohne Not wird etwas ausgelöscht worden sein, dass den Menschen wichtig war, und dessen Wert sie dann vergessen werden. In einem Orchester ist jedes Instrument wichtig, egal wie klein es ist. Deswegen wird er mir fehlen, der Musikunterricht in Luxemburg.
Er war ein besonders schöner Baum.

Moritz Eggert

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2 Antworten

  1. Erik Janson sagt:

    Lieber Moritz,

    ein schöner Artikel. Da kann ich nur zustimmen. Es ist traurig, wie Europa beginnt sich – nun auch kulturell – ab zu schaffen (nicht nur mit den ganzen Finanzdingen und indem man den Ratingagenturen überall ihre Macht lässt, die ganze Staaten verramschen/ damit als Folge natürlich „Sparknebel“ setzt, worunter vor allem Kultur und Bildung als erste zu leiden haben werden (obwohl in diesem Sektor nur weit unter 10% an Sparvolumen/-potential) steckt. Ein Irrsinn!
    Tja – Luxemburg, ein schönes, grünes fleckchen Erde. Aber man bekommt den Eindruck: EU-Funktionärstum und global agierende Bankenlobbys bedienen können die offenbar besser als Kultur.

  2. querstand sagt:

    Warum Musik gestrichen werden sollte, das würde mich wirklich interessieren! Reines Kaputtsparen aus Effizienzdenken? Was man bei professioneller Kultur an Fusionen und betrieblichen Rationalisierungen unter grösster Selbstüberwindung den Rasenmähern noch konzedieren könnte, wobei sie eher Wurzelmäher sind, wie sie unser Kraut letztlich komplett zerrupfen, ja, was man bei Musikschulen sogar unter schlimmsten Brechreizen ertragen kann, führt im Bereich der schulischen Bildung zu Amoklauf: natürlich sollen Schüler in Mathematik und Sprachen bestens bewandert sein, sollen sie Informatik und Physik beherrschen, Grundzüge von Geschichte, Erdkunde, Soziologie, etc. erheischen. Warum soll dies aber zu Lasten von Musik und Kunst gehen? Abgesehen von all den positiven Wirkungen aufs Lernen, auf Gruppenverhalten, auf allgemeine kulturelle Grundbildung: seit jeher gehört Musik zum Bildungspaket der wichtigsten Fächer. Deshalb spielte sie in der klassischen wie bürgerlichen Schule eine solch immense Rolle, ganz in der Tradition des uralten, aus der Antike stammenden Quadrivium. Gut, das mag sich heute ein wenig geändert haben, sind Fächer dazu gekommen. In den Grundzügen aber von Sprach-, Rechen-, Denk- und Kulturbildung gilt es aber noch immer. Wenn nicht, dann lasst uns doch gleich neben den Hauptschulen auch die Gymnasien abschaffen! Man mag tatsächlich selten Musik in Vorstandsetagen antreffen und manche Manager und ihre nach oben strebenden Untergebenen mögen nur noch an Rafting, Heliskiing, Transformers, Ibiza, Clubbing und ihre Geldgier denken. Genauso oft findet man aber Zirkel, die nach wie vor Oper, Museum, Archäologie, Architektur und Musik pflegen, sich damit von den o.g. mediokren Geldsäcken absetzen. Also: wenn man beruflich wirklich erfolgreich sein will, wirklich ganz nach oben möchte, sollte man Haydnquartette kennen und auch schon einmal gespielt haben. Alles andere ist schödes Geldhahnzudrehen oder ein Hinterlaufen nach den abgewrackten Musik- und Kulturkenntnissen von Generationen, die Musik nur noch als Klingelton kennen, wo ein singender Mensch nur die peergroup stört? Warum sollte Schule davor ausgerechnet scheitern sollen? Wenn Luxemburg also so blöd wie die Niederlande sein sollte, die aktuell auch am Wrackbilden sind, dann sollte man seitens Deutschlands an den entsprechenden Landesgrenzen eins zu eins Orte für die vertriebenen Kulturlernenden und -Schaffenden errichten… Oder weiss ich was! Das Europa der Kulturen ist allmählich am verblassen… Oder geht es uns zu gut, so dass wir den Wert der musikalischen und weiteren kulturellen Grundnahrung nicht mehr schätzen, so wie die wenigsten von uns heute Runkeln, Löwenzahn und Brennessel kennen?!?