musik zum knutschen – darmstadt 2010

Darmstädter Barock

„Und als die Bässe begannen, uns von tief unten zu streicheln, da gab es kein Halten mehr: Alles begann zu knutschen, im Schutz der Augenklappe, die Francisco Lopez seinem Publikum verabreicht hatte, das war ein Kosen und Schmatzen, das noch immer leicht vom Wippen der Loops übertönt wurde.“
Rainald G., Ohrenzeuge

Helmut Lachenmann spricht ja immer gern vom Vehikel, auf das man aufspringen kann, das einen – bequem – mitnimmt und weiter trägt. (Der Siciliano ist sein Lieblingsbeispiel.) Solche Vehikel haben Konjunktur, überall blitzen sie durch, das Publikum bedankt sich, Kopfnickermusik.

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Teil 2 meiner Darmstadtexplorationen hielt ein Konzert des JACK Quartet bereit, die Internationale Ensemble Modern Akademie und einen bunten Abend u.a. mit Christian Fennesz und Anhang.

Das Jack Quartet hatte „Interpreter’s Choice“ mitgebracht. (Was leider dazu geführt hat, dass einige begannen, an der künstlerischen Integrität des Ensembles zu zweifeln.) Ein Streichquartett von Caleb Burhans hat große Chancen auf das meistbelästerte Stück der Ferienkurse, das traue ich mich auch zu sagen, ohne länger vor Ort gewesen zu sein. Man stelle sich eine Mischung aus „Rondo veneziano“, Pachelbel-Kanon und einer Hollywoodschaukel vor und man hat die Qual der Anwesenden vor Ohren. Erstaunlich: Niemand pfiff, niemand buhte. Der Applaus fiel etwas leiser aus. Neue Unverbindlichkeit? Altmodische Nettigkeit? Großherziger Gleichmut? Yoshiaki Onishis aufregendes, im Geräuschurwald wesendes Quartett hörte nach über einer Stunde ohne Pause leider nur noch ein versprengtes Häuflein.

Aber man hat ja leicht reden, wenn man nach einer Woche mal wieder reinplatzt in diesen Planeten Darmstadt. Hier sind die Augenringe längst länger als die Schatten am frühen Abend. Nur bei einem nicht. Bei Thomas Schäfer, mit dem ich die Serie meiner Nachtsnachdemdrittenbier-Gespräche fortsetzen durfte. Er gibt darin einen Einblick in seine konzeptionellen Gedanken und hat auch keine Kosten und Mühen gescheut, damit dieses Gespräch nicht im tristen Darmstadt, sondern auf seinem Anwesen in der Provence stattfinden kann. (Dieser Hinweis, der bei Redakteuren bereits für Irritationen gesorgt hat, löst sich in den ersten Sekunden des Podcasts auf. Wie immer: uncut.)

HINWEIS und UPDATE: Der Podcast mit Thomas Schäfer wurde auf Bitten des Gesprächspartners von der Seite entfernt. Wir bedauern dies, respektieren den Wunsch jedoch.

Podcast 20100724 Thomas Schaefer IMD Darmstadt

Unterschlagen sei nicht das IEMA-Konzert. Robin Hoffmann hatte den jungen Profis „anstatt dass“ – so der Titel – eine vertrackte Partitur mit gegenläufigen accelerandi und rallentandi verordnet, die vom Ensemble gar ohne Dirigent bewältigt wurde. Simon Steen-Andersen verstrickte seine Hörer in gebrochene Loops mit gelegentlich fein blubbernden Basslinien, mit spitzen Ohren gesetzten Geräuschakzenten und energischem Fernposaunengeschmetter: „eingekammerte Musik“, wie der Titel „chambered music“ hintersinnig andeutet. (Wer ist jetzt drinnen und wer draussen.) Marco Momi hatte zuvor noch eine edel designtes Ensemblestück mit Live-Elektronik präsentiert, so eher für BMW-Fahrer. (Danke fürs Mitnehmen zum Hotel!)

Um nicht dem Promihype zu verfallen und hier nur „Offizielle“ der Darmstädter Ferienkurse zu Wort kommen zu lassen: Hier das Gespräch mit einem völlig unbekannten Zuschauer der Darmstädter Ferienkurse, der mir aufgrund seiner bunten Jacke aufgefallen ist. Seine Identität ist nicht restlos geklärt, es gibt Hinweise, dass sie im Umfeld der Website „kulturtechno“ beheimatet ist.

20100723 unbekannter Besucher, Mann von der Straße

Lucio Fontanta Maritim

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Musikjournalist, Dramaturg

Eine Antwort

  1. querstand sagt:

    BRAVO, Herr Hahn!!

    In mir grummelte schon ein wenig „le coq est mort“! Aber mit diesem Bericht aus Darmstadt: wärmsten Dank. Das Gespräch mit Hrn. Schäfer, wahrlich lang, nett die „nicht-aufgenommen“-Attitüde am Ende. Der Eindruck: ein wenig scheint das 2010-Team die totale Verantwortung aus der Hand gegeben zu haben, s. Stückauswahl durch Ensembles, s. Open-Space Programm. So in den Bereichen eine grössere Freiheit als zuvor.

    Das Genörgel daran: anhand des JACK-Quartetts sieht man, wie diese „Freiheit“ aussieht. Ob sie nun Lachenmann und Xenakis selbst aussuchten oder nicht, um beide herum kommen sie so oder so nicht. Da die JACKs dieses Jahr auch zu Gast in Donaueschingen sein werden, sind diese Oldies fast schon eine Zwangsvisitenkarte. Aber Hochachtung, daß sie da spielend in Konkurrenz zu den Ardittis treten können.

    Und das Risiko „Caleb Burhan“? Da bricht sich Gott sei Dank der schreckliche amerikanische Geschmack eine freie Bahn, der nicht vor den europäischen Göttern erstarrt, sondern unsere Favoriten grandios respektiert und sich auch für so „Zeugs“ ins Zeug legt. Ich erinnere mich da an Berichte aus den 90ern: damals spielten die Ardittis wohl Ben Mason, der ja durchaus auch ein gewisser Verweigerungsschlawiner ist. Das galt dann den alten Hasen als zu „tonal“, „öde“, etc. So verwundert es doch ein wenig, wen Kreidler im späteren Interview ungefähr den ähnlichen Darmstadtreflex in puncto „tonal“, „minimal“, etc. an den Tag legt, wie die Karnickel der 90er. Wo liegt hier nur mal wieder der Hase im Pfeffer? Ich würde mir ehrlich mehr solche Musikansätze wünschen, da diese naiv scheinen, ggf. auch sind, überhaupt nicht fassbar mit den derzeitigen hochentwickelten Neue-Musik-Maßstäben sind und so doch eigentlich stärker herausfordern sollten als einfach nur abgetan oder brav beklatscht zu werden. Persönlich stehe ich solchen Banalitäten auch eher fremd gegenüber, aber irgendwas scheint sich doch dahinter zu verbergen, bei „Burhan“ eine grosse amerikanische Depression – so glaubt man nach dem Besuch seiner Homepage. So weit scheint die Selbstverantwortung der Ensembles erst mal ganz ok zu sein.

    Die von Kreidler erwähnten „Konstellationen“ lesen sich noch am informativsten, was da an Inhalten transportiert wird, wo KomponistInnen über ihre Werke berichten, gerade B. Lang.

    Dagegen wirkt der Open Space aber dann wie eine Werbeplattform für neue Software, für Interpreten, die nicht im offiziellen Teil sich darstellen dürfen, für Dinge, die allgemein eigentlich nicht sooo wichtig sind. Also wohl keine Werke, die so strittig sind und dort unbedingt gezeigt werden müssen, weil dem Team oder den Ensembles eine zensorische Schere im Kopf steckte! Nein, das meiste kann mal wohl vergessen. Schade nur, dass Leopold Hurt, der leider von keinem Ensemble ausgesucht worden ist, nicht mal zu den Reading Sessions, nur dort seine formidable Zither zeigen darf! Der hätte doch wundersame Dinge, gerade mit B. Lang, in einem offizielleren Rahmen zeigen können, vielleicht wäre dann sogar irgendein Zitherschund von mir zum Zuge gekommen? Da wiederholt Darmstadt sich aber mal wieder selbst, als Lachenmann nur über die Zither lächelte – manchmal sind diese Vehikelisten ganz schon verbohrt und doof!!!!!

    Jetzt müsste hier Schluss sein, da das Folgende eigentl. zu oberen Lückers Beitrag gehört, aber es geht auch um Darmstadt!

    Ich ließ mich ja schon über diesen u35-Schmarrn aus. Dass aber ausser dem OpenSpace kein freies Forum für Kompositionsteilnehmer geboten wird, ist katastrophal. Es bleiben nur die Reading Sessions, die aber auch durch die Ensembles besetzt worden sind. Da herrscht überhaupt keine Freiheit, bis auf diese Gunst gegenüber des Ensembles, die Gespielten selbst zu bestimmen. So herrscht dann von hinten betrachtet, wenn Arnos Mutmassungen stimmen, eine schlimmere Zensur. Man denkt an eine Art hessische Musikgaukammer…. und das wäre echt der Hammer. Alles würde gelb leuchten, eben so freiheitlich oligarchisch, wie die FDP so erscheint. Ein bisschen mehr Basisdemokratie nebst den Verkaufsveranstaltungen des OpenSpace wäre doch geboten.

    Und nochmals u35: wenn Kreidler die Youngsters nun alle so viel älter also zuvor vorkommen, scheint das eben eine Ausgeburt des neuen Darmstädter internationalistischen Neoliberalismus zu sein: die jüngsten, die ja schon mit u25 ihre Meisterwerke geschrieben haben wollen, in 2ter Ehe verheiratet sind und für 4 Kinder Alimente zu zahlen haben – diese jungen Leute sehen heute schon älter aus als die verknöchersten Altachtundsechsziger! Kein Wunder, dass sich selbst Kreidler in seinen wunderbaren mozartpunkigen Kleidern so alt vorkommt, dabei ist er garantiert jugendlicher als der Dauerkrawattenträger Evan Gardner, der neue Filmmusik-Pintscher…

    Warum noch Streichquartett? Ich muss gestehen, dass es mir nach etlichen Zitherstücken und Musiktheatern als verkappter Cellist durchaus nach +/-Streichquartett gelüstet. Die Form ist solange en vogue, wie KollegInnen was dazu einfällt. Das Problem ist vielmehr so gelagert, wie der „alte Herr“ bei Lücker schreibt (wenn das mal Hr. Lücker nicht alles nur erfunden hat..), dass Arditti, dass Pierrot-Lunaire-Besetzungen, Flöten-Klavier-Schlagzeug-Stücke, alles als Fragment, Haiku oder 10-Minuten-Klassiker zu lange den Markt beherrschten, mit enorm viel schlechten Stücken, die keiner mehr hören will – hoffentlich gibt es nie eine Darmstadt-Archiv-Renaissance wie die derzeitige Alte-Musik-Wiedererweckung der letzten zerfressenen Archivalien. Die Besetzungen wären schon wunderbar, wenn die Formen und natürlich v.a. die Inhalte besser wären.

    Und ach der Darmstadt-Blog des IMD: ein zartes Pflänzchen – wie gut, dass es den Badblog, die Mutter aller Blogs, gibt. Mit zwei weiteren Kollegen versuche ich mich nun bei den Klangspuren Schwaz, zum Thema Zither. Mal sehen, ob sich da was bewegt. Die Klangspuren fangen auf alle Fälle mit kürzeren Texten an, als ich hier jemals zu kommentieren wagte. Immerhin fiel mir zur Zither noch nicht viel ein, eher zu „Hitze“ und „Stiel“, was aber wieder Rückschlüsse auf die hermetische Zitherszene zulässt, die noch von dem Glauben an Volkskultur beherrscht, wo man alles Skandale und Probleme der Neuen Musik in einer Nischennischennische so wunderbar wiederholen kann, dass es einem ganz frisch vorkommt, auch wenn man weit weniger ästhetisch hart ist, wie die Darmstadt-Oldies und Youngsters.

    Aus der Ohrenwerkstatt,

    Euer A. Strauch